04.10.2015

Lollapalooza Berlin

Und dann war da noch das Lollapalooza-Festival, das erstmals in Europa
gastierte, auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Vorab gab es im Berliner
„Tagesspiegel“ eine mehr als halbseitige, als redaktioneller Beitrag getarnte
Werbung, in der die üblichen Floskeln unkommentiert und unhinterfragt
abgedruckt wurden, mit denen die „Lolla“-Macher eben so hantieren. Alles aus
dem neuen neoliberalen Wörterbuch der Uneigentlichkeit, jede Plattitüde, die
bereitsteht und nichts bedeutet: „Berlin ist eine Kunst- und Kulturmetropole“,
erfahren wir so dankenswerterweise von der Festivaldirektorin, und: „Diese
Stadt verdient es so sehr, so ein großes Festival zu haben“ (aber verdienen an
dem Festival nicht ganz andere? etwa der Live Nation-Konzern, der weltgrößte
Konzert- und Tourneeveranstalter, der bevorzugt die Präsidentschaftskampagnen
von US-Republikanern finanziert, wie schon sein Vorgängerkonzern Clear Channel
den Wahlkampf von George W. Bush?). Am gleichen Tag, an dem die unkritische
Lollapropaganda im „Tagesspitzel“ zu lesen war, konnte man andernorts von einer
Studie über die Mediennutzung hierzulande erfahren: Demzufolge lesen die 14-
bis 29-Jährigen nur noch neun Minuten täglich Zeitung, was einen bei der
angebotenen Qualität nicht so recht wundern will. Mag sein, daß das böse Internet daran Schuld ist, aber
anders, als es die Zeitungskonzerne immer wieder behaupten: Denn im Internet
können netzaffine (also meist jüngere) Menschen feststellen, daß die Zeitungen alle
größtenteils das gleiche schreiben. Warum sollten sie dafür Geld ausgeben?

Ansonsten war die Berliner Lollapalooza eine mißlungene und schlecht
organisierte  Veranstaltung, wenn man den
Medien glauben darf: „Ich stand fast anderthalb Stunden für mein Bändchen an.
Das Frühprogramm war jedoch ohnehin bestückt mit Langweilern wie James Bay oder
den Mighty Oaks (...) Am besten besucht war der Auftritt des an Harmlosigkeit
kaumnzu überbietenden Kinderrappers Macklemore“, berichtet Markus Schneider in
der „Berliner Zeitung“, und ergänzt: „Rund 50 Prozent der Besucher waren
Touristen, die wohl vom Markennimbus angelockt wurden“, was sich mit dem deckt,
was man von Insidern so hört, nämlich, daß nur etwa die Hälfte der bis zu 500
Euro teuren Tickets überhaupt in Berlin verkauft wurden. Schneider zieht das
Fazit, daß „das ganze Setting etwas regressiv war und an Pauschalreisen
erinnerte“, eine „betäubend friedliche Pop-Version von Disneyworld“.„Wenig Platz und endlose Schlangen“, moniert die Kritikerin der „taz“
das Festival, das sich ihrer Ansicht nach „alles andere als abseits vom
Mainstream verortet“. Und Gerrit Bartels beginnt seinen Bericht unter dem Titel
„Mainstream der Individualisten“ im „Tagesspiegel“ mit den Worten: „Was für ein
Debakel“ und erzählt von „Menschenschlangen überall“.Auf der „Alternative Stage“ steht rechts und links groß: „Be Different“
und „Be Alternative“. Das kennt man von der Bierwerbung: „The beer for a fresh
generation“ oder „für Vorreiter, nicht für Mitläufer“ bewarb die
Mitläufer-Biermarke Beck’s weiland ihre Dünnware, den KundInnen wird
suggeriert, sie seien etwas ganz Besonderes, eben „different“, wenn sie das
trinken oder hören, was alle trinken oder hören. So, wie bekanntlich der
Ballermann auf Mallorca das letzte Refugium selbstbestimmter
Individualtouristen ist.

Kerstin Grether kritisierte in der „Zeit“, daß beim sich ach so
alternativ gebenden Lollapalooza, dem großkotzig selbsternannten „Woodstock des
neuen Jahrtausends“ der Anteil von Musikerinnen „noch unter dem obligatorischen
Festival-Durchschnitt“ von 8 Prozent lag. Laut „taz“ barmt der
Lollapalooza-Booker Stefan Lehmkuhl (der auch Booker des Berlin-Festivals und
von Melt ist), „man habe mit Florence + The Machine einen weiblichen Headliner
buchen wollen  das sei an der Gage
gescheitert“. Jetzt mal im Ernst? Lehmkuhl will uns weismachen, daß bei einem
Festival, das angeblich ausverkauft war, also bei 45.000 BesucherInnen pro Tag eine
satt zweistellige Millionensumme eingespielt haben dürfte, nicht genug Geld für
Florence + The Machine oder andere weibliche Acts in der Kasse war? Awcmon,
verarschen können wir uns selber, Herr Lehmkuhl! Zumal es ja auch andere,
großartige Musikerinnen gegeben hätte. Nichtkommerzielle Festivals wie Roskilde
machen es vor, wie man ein anspruchsvolles, vielseitiges und interessantes Line
Up bucht. Dort werden die Gewinne allerdings auch nicht an Live Nation
abgeliefert, sondern sozialen und ökologischen Projekten gespendet...Lollapalooza ist eben „nicht mehr
cool, sondern ein Inventarstück der Musikindustrie“ (US-Kritiker Robert
Chistgau, 1995), Lollapalooza ist eine einzige, gigantische Mogelpackung und
ein kommerzielles Ereignis, das der Kommerzialisierung der Alternativkultur
durch die größten multinationalen Konzerne dient.

„Fuck Lollapalooza. That isn’t rock and roll.“„Coachella, Lollapalooza, Bonnaroo — the lineups are the fucking
same. It’s about numbers, it’s about bottom lines, it’s about measuring groups
and cultures of people and the numbers that they represent on a bottom-line
agenda. All the lineups are becoming more and more the same, the same fucking
headliners.“ (Justin
Vernon/Bon Iver im sehr interessanten Interview mit Grantland)

04.10.2015

Superhabitable worlds & rote Zwerge

Nach Forschungsergebnissen kanadischer Astrobiologen bieten ferne Welten
bessere Bedingungen für Entstehung und Entwicklung von Leben als die Erde. Diese
„superhabitable  worlds“ werden durch von
den Astronomen so bezeichneten „roten Zwergen“ bestrahlt, besitzen mehr
Oberfläche und eröffnen der belebten Natur damit mehr Raum, sich zu entfalten,
und machen die Entstehung hoch entwickelter, außerirdischer Daseinsformen sehr
wahrscheinlich.Das wundert mich wenig. Klar, daß es irgendwo in den Fernen des Alls
Leben ohne Rassisten, ohne Ausbeutung und Finanzkapitalismus, ohne Blödzeitung
und Kulturindustrie, ohne Helene Fischer und Dieter Gorny geben muß. Und
ebenfalls klar, daß solche Planeten von „roten Zwergen“ bestrahlt werden...

04.10.2015

US-Präsidentschaftswahlen - Trump, Sanders & Co

Nun belästigen uns die bürgerlichen Medien, die Qualitätspresse, die
Rundfunk- und Fernsehanstalten und die einschlägigen Magazine wieder fast
tagtäglich mit ihrer Hofberichterstattung zu dem Spektakel, das in den USA als
„Präsidentschaftswahlkampf“ bzw. als Vorwahlkampf inszeniert wird, und es wird
noch über ein Jahr dauern. Sie wissen schon, das ist dieser Zirkus, bei dem
eine Minderheit der Bevölkerung die Wahl zwischen einem rechten und einem
Mitte-Rechts-Kandidaten haben wird, und der dem Rest der Welt als Demokratie
verkauft wird.Bisheriger Höhepunkt der hiesigen Berichterstattung war der
Feuilleton-Aufmacher im laut aktuellen Büchner-Preisträger Rainald Goetz
„Zentralorgan der Arschlochwelt“, also der „Zeit“, am 17.9.d.J. Titel: „Trumps
Welt“. Untertitel: „Der amerikanische Populist trifft auf eine Stimmungslage
voller Enttäuschung und Realitätsverweigerung. Haben wir ihn verdient?“, fragt
Hans Ulrich Gumbrecht. Auf so eine Frage muß man auch erstmal kommen, dann darf
man Aufmacher im Feuilleton der „Zeit“ schreiben: Haben „wir“ „ihn“
„verdient“?!?

Oder, andersherum gefragt: Hat Obama Pegida und Frigida verdient?Seltsame Logik.

Es wäre jedenfalls schön, wenn man die nächsten Monate von all den
wichtigtuerischen Artikeln über Herrn Trump, Frau Clinton und all die anderen
weitgehend verschont bliebe. Man könnte stattdessen ja in ähnlicher
Ausführlichkeit über transatlantische Politikkonzepte berichten und diskutieren.
Denn Trump zum Beispiel ist eine reine Projektionsfläche der kleinbürgerlichen
US-Rechten und der bürgerlichen Presse hierzulande, er wird weder US-Präsident
werden noch auch nur Präsidentschaftskandidat der Republikaner, ganz egal, ob
„wir“ ihn nun „verdient“ haben oder nicht. Man braucht nur einen kurzen Blick
auf die Analyse von Nate Silver werfen, dem amerikanischen Statistiker,
Wahlforscher und Publizisten, der bei der Präsidentschaftswahl 2008 mit einer
Ausnahme alle Ergebnisse in allen Bundesstaaten ebenso richtig vorausgesagt hat
wie die Gewinner aller Wahlen zum Senat und der von „Time“ zu den 100 weltweit
einflußreichsten Persönlichkeiten gezählt wurde (daß Wahlforscher zu so etwas
werden, kann auch nur in den USA passieren...). Dieser Nate Silver jedenfalls
hat analysiert, daß Trump bei weitem nicht so populär unter den
Republikaner-WählerInnen ist, wie allüberall getan wird. Sicher, Trump führt
die Umfragen aktuell an – wenn man aber alle Umfragen nach „favorable“ und
„unfavorable“ analysiert, woraus Silver ein Kriterium namens
„Netto-Beliebtheit“ errechnet, liegt Trump nur an 13. Stelle unter 17
Kandidaten. Denn er ist zwar bei 47% der Befragten beliebt, aber eben auch bei
43% unbeliebt. Nate Silver vergleicht Donald Trump in einem Blogbeitrag mit der
Band Nickelback: bei vielen Leuten unbeliebt, aber von ein paar die-hard-Fans
vorbehaltlos bewundert. Bei Trump ist es jedoch laut Silver ein wenig anders: er
wird weniger von passionierten Republikanern bevorzugt denn von wenig
informierten WählerInnen („low-information voters“). Und die entscheiden nun
mal nicht über die Aufstellung des Präsidentschaftskandidaten der Republikaner.
Alle Aufregung, alle Leitartikel über Donald Trump sind vergebens und völlig
überflüssig, sieht man mal von den Zeilenhonoraren für ihre Autoren ab. Love’s
labor’s lost.

04.10.2015

Investitionsschutzregeln

Wie die Investitionsschutzregelungen zwischen den USA und der EU
ablaufen sollen, zeigt das Beispiel immenser Umweltschäden im Quellgebiet des
Amazonas durch den US-Ölkonzern Chevron. Das oberste Gericht Ecuadors hat
Chevron dafür im November 2013 zu einer Schadensersatzzahlung von 9,5 Milliarden
US-Dollar verurteilt. „Fast 30 Jahre lang
hatte der Texaco-Konzern, der 2001 von Chevron übernommen wurde, Öl im größten
Urwaldgebiet der Erde gefördert und dabei mit 30 Milliarden Litern hochgiftiger
Rückstände Boden und Gewässer verseucht“, berichtet die „Berliner Zeitung“.
„Doch anstatt zu bezahlen, berief sich
Chevron auf ein 1997 zwischen den USA und Ecuador unterzeichnetes
Freihandelsabkommen und auf die darin enthaltenen Investitionsschutzregelungen“
(die den Regelungen, wie sie in CETA und TTIP geplant sind, entsprechen). Auf
deren Basis verklagte der US-Konzern Chevron den südamerikanischen Staat und
erhielt recht: Chevron schuldet Ecuador und den Menschen im Quellgebiet des
Amazonas bis heute jeden Ausgleich, jegliche Regulierung der immensen
Umweltschäden, die der Konzern dort verursacht hat, stattdessen wurde Ecuador „von einem Schiedsgericht zur Zahlung von 77
Millionen Dollar an Chevron verurteilt“.Unglaublich? Aber wahr! Vereinbarungen wie TTIP oder CETA ermöglichen
den multinationalen Konzernen Klagen gegen Staaten, wenn sie ihre Investitionen
durch staatliches Handeln beeinträchtigt sehen – Investitionsschutz schlägt
Menschenrecht.Die „Berliner Zeitung“ berichtet weiter, daß „die Zahl solcher Auseinandersetzungen, die meist von hochbezahlten
Wirtschaftsanwälten vor nicht-staatlichen Schiedsgerichten“, die fernab der
bestehenden Justiz und im Geheimen agieren, „ausgetragen
werden, weltweit ansteigt.“ Und laut einer Untersuchung der US-Verbraucherorganisation
Public Citizen können auch heute schon, ohne Unterzeichnung des TTIP-Abkommens,
82 Prozent der 51.495 US-Unternehmen, die in der EU tätig sind, das
europäisch-kanadische Freihandelsabkommen CETA zum Zweck des
„Investitionsschutzes“ nutzen, weil diese US-Firmen nämlich über Tochterfirmen
in Kanada verfügen. Und CETA ist laut Gabriel „ausverhandelt“, wie er im
November 2014 vor dem Bundestag bekannte...

Der amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz
erklärt, daß bei TTIP „die Regelungen zum
Schutz geistigen Eigentums, die vereinbart werden, eigentlich eine
Einschränkung des freien Handels sind.“ Und er stellt fest, daß die
TTIP-Regelungen menschenfeindlich sind, und nennt ein Beispiel: „Nehmen Sie Asbest: Als vor Jahrzehnten
festgestellt wurde, daß das giftig ist, mußten die Hersteller Entschädigung
zahlen. Nach TTIP-Logik müßte die Regierung dem Hersteller eine Entschädigung
dafür zahlen, daß er nicht weiter Menschen vergiften darf.“
(„Tagesspiegel“)

04.10.2015

Flüchtlingspolitik - Migrantenpendel

Das „globale Migrationspendel“
schlägt zurück, sagt der Münchner Soziologe Stephan Lessenich. Er bezieht sich
darauf, daß die europäische Auswanderung in den Jahrhunderten zuvor und die
Ausbeutung der Kolonien den Ursprung des nördlichen kapitalistischen Reichtums
begründet haben. Heute, so Lessenich, haben wir eine Weltungleichheitsskala,
nach der alle (!) Einkommensgruppen in den europäischen Ländern zu den
reichsten 20 Prozent der Welt gehören, während große Teile des südlichen
Afrikas zu den ärmsten 10 Prozent zählen. Die Geschichte der europäischen
Demokratien und Wohlfahrtsstaaten habe eine unerzählte Parallelgeschichte der „sozialen Ungleichheit, politischen
Autokratie und ökologischen Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens, die
damit dauerhaft in ihren Entwicklungschancen behindert wurden“. In diesen
zwei Welten herrschen also eigene stabile Strukturen der Ungleichheit. Man kann
die Schande Europas im Mittelmeer nicht bekämpfen, ohne sich dieser
grundlegenden Frage bewußt zu sein. Es gelte, so Lessenich, die extremen
sozialen Ungleichheiten abzubauen „durch
eine Kombination von Wachstumsverzicht der reichsten Gesellschaften und einer
egalitären Wachstumsstrategie für die ärmsten“. (zitiert nach
Medico-Rundschreiben 02/15)

Klar ist: Keine europäische Nation exportiert mehr Elend als die
deutsche. Und „der Kapitalismus war und ist – und wird es bis in seine letzten
Züge bleiben – ein auf systematischer Ungerechtigkeit und strukturellem
Rassismus aufbauendes Wirtschaftssystem, das naturgemäß zu Migrationsbewegungen
der Ausgebeuteten führt“ (der Philosoph Armen Avanessian in der „Zeit“).Und ebenso ist klar, daß „die Politik“ von Teilen der Gesellschaft zwar
dazu gezwungen wurde, so etwas wie eine „Willkommenskultur“ zu etablieren, doch
kaum haben sich deutsche Politiker an ihrer plötzlich hervortretenden
Menschlichkeit besoffen, beginnen dieselben Politiker, die Flüchtlinge in gute
Kriegsflüchtlinge und böse Wirtschaftsflüchtlinge aufzuteilen, in Flüchtlinge
mit Berufsausbildung und Sprachkenntnissen, also „junge, leistungsbereite
Menschen, die sich integrieren wollen“ (SPD-Fraktionschef Oppermann im
Bundestag) auf der einen und in solche, die „unsere“ Wirtschaft nicht
gebrauchen kann, die sich also nicht anpassen und nicht integrieren wollen und
die in „sichere Herkunftsstaaten“ abgeschoben werden müssen. Und was sicher
ist, entscheidet die Regierung unter tätiger Mithilfe der Grünen. Migranten vom
Balkan gelten als Asylbetrüger und müssen abgeschoben werden (da kann selbst
die bürgerliche SZ noch so häufig erklären, daß 90 Prozent der Serben, die
dieses Jahr in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, Roma waren, also in
ihrem Herkunftsland unterdrückt und verfolgt werden – Roma sind eben nicht
„nützlich“...).

Und wer „nur“ vor der von Europa produzierten Armut oder vor der von den
Industriestaaten rücksichtslos produzierten Klimakatastrophe geflohen ist, gilt
als Betrüger, der „unser“ Asylrecht „mißbraucht“, also irgendwie „illegal“ ist.
Dabei ist der eigentliche Skandal doch der permanente Mißbrauch des Grundrechts
auf Asyl durch die Politik, wie Christian Bommarius in der „Berliner Zeitung“
erklärt: „Denn es ist die Politik selbst,
die den Mißbrauch des Asylrechts seit einem halben Jahrhundert unbeirrt
betreibt. Jahrzehntelang hat sie sich der Einsicht verschlossen, daß ein großer
Teil der Menschen, die Einlaß begehren, nicht als politisch Verfolgte kommen,
sondern als Armuts- und Umweltflüchtlinge, denen verweigert wird, was sie – im
Prinzip – gar nicht verlangen. Sie suchen keine Zuflucht, sondern eine neue
Heimat, für sie ist nicht Art. 16a des Grundgesetzes (Asylrecht) zuständig,
sondern Art. 1: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.’“

Aber die Deutschen haben eben Erfahrung im Sortieren von Menschen, es
steckt tief in ihnen, wie man an der Rampe steht. Heiner Müller hat in seinem
letzten Interview im Sommer 1995, als er in Bayreuth zusammen mit Daniel
Barenboim den Tristan inszeniert hat, beeindruckend darauf hingewiesen, wie das
Grundprinzip der „Selektion“ entstand: „Die Losung der Pariser Commune war: Keiner oder alle. Und jetzt heißt
es in den reichen Ländern mit Blick auf die übervölkerten, näherrückenden
Armutszonen: Für alle reicht es nicht.“Drehen wir einmal den Spieß um und stellen fest, was aus unserer Sicht
wahrhaft „alternativlos“ ist: nämlich, zurückzukehren zum Prinzip der Pariser
Commune: Keiner oder alle! Alle Menschen sind gleich! Alle Menschen verdienen
die gleichen, würdevollen Lebensumstände! 
Und wenn uns Politiker weismachen wollen, daß so eine Haltung Probleme
mit sich bringen werde: angesichts massenhaft ertrinkender Flüchtlinge im
Mittelmeer und an den Grenzanlagen und Mauern, die Europa 26 Jahre nach dem
Mauerfall errichtet hat, ist der Hinweis auf solcherart Probleme geradezu
obszön! Probleme haben einzig die Flüchtlinge, und ihnen muß geholfen werden.
Allen.

So, wie das kleine und nicht allzu reiche Libanon mit seinen xx
Einwohnern derzeit 1,147 Millionen Flüchtlinge beherbergt, sollte es dem
reichen Europa ein Leichtes sein, eine im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl
und zu seinem Reichtum kleine Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen und dauerhaft
zu beherbergen. „Schnell und spektakulär waren die Rettungsaktionen für jene
Banken, die durch die Finanzkrise von 2008 in Not gerieten. Die EU-Staaten
haben sie mit 1,6 Billionen Euro vor der Pleite bewahrt. (...) Die Finanzkrise
kostete allein Deutschland 187 Milliarden Euro. Als das Überleben der Banken
auf dem Spiel stand, zeigte sich Europa entschlossen und aufopferungsvoll. Wenn
hingegen Menschenleben in Gefahr sind, handelt es weniger entschieden.“
(Byung-Chul Han im „Tagesspiegel“) Die technokratischen Institutionen
versuchen, seit der von ihnen herbeigeführten Finanzkrise 2008 oder zuletzt in
der von ihnen herbeigeführten „Griechenlandkrise“, ihre Hegemonie
wiederherzustellen. Eine Hegemonie des Finanzkapitalismus, der die Interessen
der Menschen ignoriert. Eine barbarische Politik – „woran liegt es, daß wir
immer noch Barbaren sind?“ (Friedrich Schiller) Genug Geld jedenfalls ist da,
den Flüchtlingen, den Menschen zu helfen – Geld, das den Banken 2008
bereitwillig (?) zur Verfügung gestellt wurde. Oder: Stolze 3,1 Billionen Euro
werden in den kommenden Jahren bis 2024 hierzulande vererbt. Da werden doch
paar Milliarden für Menschen in Not möglich sein. –

Und ein Letztes noch: Wer sich wie Außenminister Steinmeier hinstellt
und die Schlepper geißelt und fordert, daß den Schleppern das Handwerk gelegt
werden muß, aber gleichzeitig am Rand Europas Mauern und Zäune errichtet und
Frontex Patrouille durchs Mittelmeer pflügen läßt, um Flüchtlinge abzuwehren,
sie also in die Arme der Schlepper treibt, der beweist einen Ungeist, der mit
der Vokabel „pharisäerhaft“ sehr freundlich umschrieben wird. Es gibt eine sehr
einfache Lösung, die meisten Flüchtlinge vor den Schleppern, also vorm
Ertrinken im Mittelmeer oder dem Ersticken auf Europas Autobahnen zu retten:
Kauft ihnen billige Flugtickets, mit denen sie legal nach Europa einreisen
können. Schickt meinetwegen Bundeswehrflugzeuge in die Krisengebiete, um die
Flüchtlinge einzufliegen. Wer stattdessen die Stacheldrahtzäune an den
Außengrenzen Europas immer weiter in die Höhe treibt, hat Schuld am Tod der
Flüchtlinge. Und wenn die Bundesregierung am 3.Oktober „Grenzen einreißen“
feiern läßt, ist das angesichts der Realität der selektiven Flüchtlingspolitik,
die nicht nur von Seehofer und seinem reaktionären Kumpel Orban gefordert und
betrieben wird, nur noch zynisch.

04.10.2015

Flüchtlinge - Stacheldrahtfabrtikant

„Ich kann doch nicht einen Flüchtling, der nichts weiter hat als das,
was er trägt, mit einem Kind auf dem Arm durch NATO-Draht laufen lassen.“Mit diesen Worten lehnte dagegen Talat Deger, Geschäftsführer der
Neuköllner Zaun- und Drahtfirma Mutanox, laut „Berliner Zeitung“ einen 500.000
Euro schweren Auftrag der ungarischen Regierung ab.

04.09.2015

Gorny & Gabriel - Chef-Lobbyist sitzt im Wirtschaftsministerium

Schon interessant, daß die komplette eingebettete Musikpresse, die doch
sonst grundsätzlich über jeden Pups, den der Cheflobbyist der deutschen
Musikindustrie irgendwo fahren läßt, aufgeregt und ausführlichst zu berichten
weiß, in der Woche, da der „Spiegel“ groß über Dieter Gorny schreibt, dies
geflissentlich übersieht. Nun ja, ist auch nichts wirklich Schönes, was der
„Spiegel“ da über Gorny und Gabriel kundtut und darüber, wie der eine Plum den anderen Plum zu
seinem Regierungs-„Beauftragten für Kreative und Digitale Ökonomie“ gemacht
hat:

„Ein Cheflobbyist mit Regierungsposten, das ist ein Tabubruch im
Hauptstadtbetrieb – und für jeden Interessenvertreter ein schöner Traum“, weiß
der „Spiegel“. Allerdings sieht es wohl so aus, daß Gorny sich seinen
Ministeriumsposten quasi selbst verschafft hat. „Wichtige Teile seines Vertrags
stammen aus eigener Feder“, ergibt sich aus der Auswertung von E-Mails aus dem
Bundeswirtschaftsministerium. Demzufolge schickte der „zuständige
Referatsleiter kurz nach einem Besuch des Lobbyisten im Minsietrium eine Mail
an seine Kollegen. Die Hausleitung habe darum gebeten, einen Ministerbrief an
Gorny zu entwerfen. Mit dem Schreiben solle Gorny zum Beauftragten bestellt
werden. (...) Die Berufung stehe ‚in engem Zusammenhang’ mit einer Konferenz
zur Kreativwirtschaft, die Gorny gegenüber Gabriel ‚angeregt’ habe und die ‚in
enger Abstimmung mit ihm’ durchgeführt werden sollte.“Und weiter heißt es im „Spiegel“: „Das Ministerium bat Gorny sogar, sein
Aufgabenprofil selbst zu entwerfen.“ Dem kam Gorny flugs nach, und wer das
Dokument neben den finalen Vertrag lege, stelle etliche Parallelen fest. „So
wurde etwa Gornys Wunsch erhört, daß er in Zukunft die Kreativwirtschaft besser
mit den ‚Förderstrukturen’ des Ministeriums verknüpfen soll. Daß Gorny bei der
‚Entwicklung geeigneter Diskursplattformen’ oder der Vermittlung der Themen ‚in
den parlamentarischen Raum’ mithelfen soll“, geht ebenfalls auf Gornys
Eigeninitiative zurück.

Grünen-Politiker Malte Spitz fordert das, was jeder klar denkende Mensch
fordern muß, nämlich, daß Gabriel die Berufung seines Parteifreundes
zurücknehmen müsse: „Ein Lobbyist, der als Beauftragter des Bundes sein eigenes
Aufgabenprofil schreibt und so massiv eigene Interessen bei der Förderpolitik
des Bundes verfolgt, ist unhaltbar“, wird der Grünen-Politiker im „Spiegel“
zitiert.

Alles kein Thema für die Branchenmagazine der Musikindustrie?!?

Interessant ist übrigens, daß aus dem Wirtschaftsministerium heraus
ohnehin an der Kompetenz Gornys gezweifelt wird: Laut „Spiegel“ „zweifelten
Beamte ‚fachlich (!)’ am Mehrwert des neuen Mitarbeiters, wie es in den
internen Mails heißt. Der Leiter des Referats OC4 wollte nicht erkennen, warum
die Aufgaben von Gorny nicht auch vom Stammpersonal erledigt werden können.“
Ja, warum eigentlich nicht? Weil der sozialdemokratische Wirtschaftsminister
unbedingt seinem Parteifreund einen Regierungsjob zuschustern wollte, der diesem
Einfluß und wichtige interne Informationen verschafft. So dreist haben nicht
einmal je die berüchtigsten FDP-Minister
den Lobbyverbänden Einblicke und Posten in ihren Ministerien verschafft. „Die
Informationen, die über seinen Schreibtisch laufen, sind unbezahlbar. Demnächst
steht eine Reform des Urheberrechts an. (...) Da kann es nur helfen, einen Spitzenvertreter
beim Wirtschaftsminister zu platzieren.“Stellen Sie sich mal vor, der Cheflobbyist der deutschen Atomindustrie würde im Wirtschaftsministerium sitzen als "Beauftragter für Energiepolitik", seinen Vertrag hätte der Atomlobbyist selbst formuliert, und als erstes würde der Atomlobbyist frech eine Konferenz über die Atomwirtschaft organisieren und all seine Kumpel aus den Atomkonzernen einladen...Ach ja: Die von Gorny gewünschte Konferenz findet am 18.9. auf Einladung
des Wirtschaftsministeriums in Berlin statt. Die Liste der Protagonisten dieser
Konferenz wirken wie ein vom Bundesverband der Musikindustrie handverlesenes
Insidergremium. Mission accomplished.

04.09.2015

Variation eines Halbsatzes von Wiglaf Droste - Marketing

Variation eines Halbsatzes von Wiglaf Droste:„Das Wort
‚Marketing’ ist noch nicht in eine mir zugängliche menschliche Sprache
übersetzt worden“ – weswegen mit sofortiger Wirkung alle sogenannten Marketingabteilungen
aller Konzerne der Konsumindustrie zu schließen und die dort Beschäftigten
einer sinnvollen, der Menschheit nützenden Tätigkeit zuzuführen sind.

04.09.2015

ZDF-Literaturkritik & Markus Lanz

Literaturempfehlungen im ZDF, serviert von Markus „hochspannend“ Lanz mit seinem sehr, sehr hochdifferenziertem Sprachgefühl (Ausschnitte):

Christo Brand/Barbara Jones, Mandela – Mein Gefangener, mein Freund„...ein sehr, sehr
lesenswertes Buch...“ (Markus Lanz)

Michael Behrendt, Vertuscht, verraten, im Stich gelassen – ein
Polizeireporter deckt auf„Ein sehr
fesselndes, bewegendes Buch. Sehr, sehr lesenswert.“ (Markus Lanz)

Felix Baumgartner, Himmelsstürmer„Ein sehr, sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

Philipp Möller, Bin isch Freak, oder was?„Ein sehr, sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

Matthias Onken, Bis nichts mehr ging„Ein sehr, sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

Christian Fuchs/John Goetz, Geheimer Krieg„Ein sehr, sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

Jörg Nießen, Die Sauerei geht weiter...„Ein wirklich
tolles Buch. Sehr, sehr lesenswert.“ (Markus Lanz)

Kester Schlenz/Till Hoheneder, Der kleine Phrasendrescher„Eine sehr, sehr
lesenswerte Lektüre.“ (Markus Lanz)

Dagegen wird von diesen beiden Büchern eher abgeraten, sie haben es bei
Markus Lanz nicht einmal zum doppelten „sehr“ gebracht:

Uwe Woitzig, Hofgang im Handstand„Ein sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

Christian Fuchs/John Goetz, Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland„Ein sehr
lesenswertes Buch.“ (Markus Lanz)

(Mehr über Markus Lanz, seine Talkshow und seinen Style können Sie im
Kapitel „Shows“ meines neuen Buchs „I Have A Stream“ lesen. „Sehr, sehr
lesenswert“, würde Lanz sagen, wenn er das Buch in seiner Talkshow vorstellen
müßte.)

04.09.2015

Literaturkritik in der ARD & Hygiene

Doch wollen wir nicht so tun, als ob kenntnisreiche und verfeinerte
Literaturkritik eine Domäne des Rentnersenders ZDF wäre. Nein, die ARD kanns
auch. Dort hält man sich einen Denis Scheck als Literaturmann, der sich
anläßlich der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse an Jan Wagner, den
Vertreter einer sozusagen „radikalprivatistischen Poesie“ (Jan Kuhlbrodt) zu
dieser Lobeshymne verstieg:

„Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen
wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte
Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes
Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr
erwarten?“

Ja, was kann man von einem Lyriker mehr erwarten, als daß er sich gut
benimmt und der auch einem Denis Scheck ausreichenden Körperhygiene befleißigt?
Vielleicht: passable Gedichte zu schreiben? So weit will Scheck aber nicht
gehen, Gedichte über Koalabären und ein Lyriker mit perfekten Umgangsformen
sind ihm Anlaß genug für seine Lobhudele.Die von Bert Papenfuß und anderen redaktionell betreute
Literaturzeitschrift „Abwärts“ und ihr „Infektionskomitee Abwärts!“ hält
Schecks Diktum jedenfalls konsequent entgegen: „Lyrik wäscht sich nicht“ und
fordert auf, „ungebleichte Texte und Kommentare jeglicher Couleur (bzw. Odeur)
einzusenden.“

Abwärts! ist übrigens genauso wie "Drecksack - Lesbare Zeitschrift für Literatur" eine, wie würde Markus Lanz
sagen?, „sehr, sehr lesenswerte Literaturzeitschrift“ und hilft Ihnen unbedingt
weiter, wenn Sie wieder mal von der generalgereinigten, meisterpropperen Bürgerpresse und deren
nichtssagenden Umgangsformen die Nase voll haben...

04.09.2015

Pressefotografen und Helene Fischer

Und was all die Pressefotografen angeht, die sich immer wieder über
angebliche Beeinträchtigung der Pressefreiheit beschweren, wenn sie mal eine
Künstlerin oder eine Band nicht stundenlang abfotografieren dürfen (denn in
kleinerer Währung haben sie’s nicht – kritiklos embedded in die Konsumwelt der
Kulturindustrie die meisten, wenn sie aber im Betrieb und als entsprechende
Nudel mal nicht ihren mageren Profit machen können, geht’s gleich um einen Fall
für die UN-Menschenrechtskommission oder doch mindestens Amnesty
International...) – lest diesen kleinen Text von Hermann L. Gremliza:

„Pressefreiheit,
die auf Paten wie John Milton, Thomas Jefferson und Voltaire stolz ist, hat
einen neuen Helden. Er heißt Michael Konken. Der Vorsitzende des Deutschen
Journalisten-Verbands protestiert gegen ‚die Akkreditierungsbestimmungen der
Konzertagentur Semmel Concerts Entertainment zur gerade begonnenen
Deutschland-Tournee von Helene Fischer. Sie seien ein Knebelvertrag.’Die Knebeler
wollten den Bildjournalisten ‚jegliche Weitergabe der Produktion an Dritte, auch
an andere Redaktionen etc., ohne vorherige schriftliche Genehmigung’ untersagen. Damit war die Semmel Concerts
Entertainment bei John Thomas François-Marie Konken aber an den Richtigen
gekommen. Die Knebelung sei ‚ein inakzeptabler Eingriff in die
Pressefreiheit. Er forderte die Agentur auf, Bildjournalisten ohne
Vorbedingungen zu den Konzerten von Helene Fischer zu akkreditieren.
Andernfalls sollten die Fotografen auf die Berichterstattung verzichten.’

Was den Konken von
seinen Ahnen unterscheidet? Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, die
Frage, wer die Helene Fischer wann und wo abbilden und das Bild wem verkaufen
darf, eine der Pressefreiheit zu nennen statt eine des Geschäfts und vielleicht
noch eine der Würde, die ein Bildjournalist, der auf Helene Fischer ansitzt,
naturgemäß nicht haben kann.“Auch sonst ist „Konkret“ immer eine sehr lesenswerte Zeitschrift.

04.09.2015

Europamünze & Demokratie

Das Bundesfinanzministerium gibt am 12.8.d.J. in einer Pressemitteilung
kund:„Auf Initiative
der Europäischen Kommission soll im zweiten Halbjahr 2015 anlässlich des
30-jährigen Bestehens der Europaflagge von allen Mitgliedsstaaten der Euro-Zone
eine motivgleiche 2-Euro-Gedenkmünze herausgegeben werden. Vor diesem
Hintergrund hat die Bundesregierung am 12. August 2015 beschlossen, eine
2-Euro-Gedenkmünze „30 Jahre Europaflagge“ prägen zu lassen und im November
2015 auszugeben.Die nationale
Seite der Münze unterscheidet sich in den einzelnen Euro-Mitgliedsstaaten nur
durch den Namen des Ausgabelandes sowie die nationalen Münzzeichen.Das Motiv der
Bildseite wurde entsprechend dem von der EU-KOM vorgeschlagenen Verfahren von
Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union im Ergebnis einer
Internet-Abstimmung als Sieger aus fünf Vorschlägen gewählt. Es wurde von
Georgios Stamatopoulos, einem für die griechische Zentralbank tätigen
Bildhauer, entworfen und zeigt 12 Sterne, die die Gestalt von Menschen annehmen
und die Geburt eines neuen Europa begrüßen.Die Wertseite der
Münze, die Randschrift und die technischen Parameter entsprechen der „normalen“
2-Euro-Umlaufmünze.Der Münzrand der
deutschen 2-Euro-Gedenkmünze enthält in vertiefter Prägung unverändert die
Inschrift: „EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT““Das Krisenregime der EU unter dem Kuratel der deutschen Regierung findet
jenseits aller demokratischen Legitimationen statt – aber wenn sie neue Euro-Münzen
herausbringen, spielen die Herrschenden Demokratie und lassen über das Motiv
abstimmen. Die BürgerInnen haben nichts zu sagen, außer beim schmückenden
Beiwerk der Münzen.

04.09.2015

Wiener Popmusik

Schon immer waren Wiener Versionen von großen amerikanischen Alben der
Popkultur besonders interessant und eigentlich die einzigen gelungenen
Übertragungen in die deutsche Sprache – ich denke an die Bob Dylan-Songs von
Wolfgang Ambros („Allan wia a Stan“, oder „I bin’s ned“, oder „Denk net noch“) oder
an Ostbahn Kurti, der u.a. Townes Van Zandt genial ins Weanerische übertrug („Liagn
& Lochn“ / „At My Window“). Offensichtlich schmiegen sich einige der
größten Songs amerikanischer Singer/Songwriter „geradezu in Wiener Befindlichkeiten zwischen Schmäh, Angst und Ennui“,
wie Ulrich Kriest in anderem Zusammenhang im August-Heft von „Konkret“
schreibt. Und der andere Zusammenhang ist das Album von „Die Buben im Pelz
& Freundinnen“, die das komplette erste Velvet Underground-Album ins, ähem,
Weanerische übertragen haben. Ich weiß, ich hab auch erst gedacht: Spinnen die?
Sakrileg? Man hat ja den dumpfen kölschen Jong im Hinterkopf, der sich als Bob
Dylan vom Rhein feiern läßt, weil er denkt, er habe His Bobness ins Kölsche
übersetzt, und natürlich sollte so etwas nicht erlaubt sein.

Aber: bei den „Buben im Pelz & Freundinnnen“ funktionierts. Aus „I’m
Waiting For My Man“ wird das tolle „Schwedenplatz“, es gibt „Venus im Pelz“,
„Tiaf wia a Spiagl“ und den „Weana Blues“. Es ist nicht alles gelungen, vieles
ist aber sehr schön und verdient Respekt und Bewunderung. Daß es statt Warhols
Banane eine „Eitrige“ (eine Wurst namens Käsekrainer) auf dem Cover gibt (in
der LP-Version zum Abziehen wie beim Original), ist eine hübsche Idee. Das
Album ist um eine ganze Klasse besser als all das, was die doch etwas
überschätzten österreichischen Wandas und Bilderbücher, die von der
Musikindustrie und ihren medialen Vasallen gerade durchs Dorf getrieben werden,
so veröffentlicht wird.

Es scheint da ein paar Retro-Tropfen im Trinkwasser der Wiener
Gemeindebauten zu geben: Eine Gruppe namens „Erstes Wiener Heimorgelorchester“
(EWHO) hat letztes Jahr auf einem Album Kraftwerks „Mensch-Maschine“ in seine
Einzelteile zerlegt. Was sich auch erstmal blöd anhört, aber reichlich toll
ist. Ich sage nur: „Das Modell“! Hören Sie bei Spotify mal rein. Was
Monkeymusic als Label macht, ist schon einzigartig, von Ernst Molden & Der
Nino aus Wien bis zu Bolschoi Beat und den „Kosmonauten der Liebe“. Sorry
Berlin, aber mir scheint: Vienna rules! Von wegen „Goodnight Vienna“...

04.09.2015

Eurozone und Demokratie

Slavoj Žižek zitiert in der
„FAS“ Giannis Varoufakis, der einen außerordentlichen Moment während seiner
Verhandlungen mit Brüssel beschrieben hat: Wie er Jeroen Dijsselbloem, den
Präsidenten der Eurogruppe, einmal vorgeworfen habe, der könne doch nicht
einfach ein Treffen der Eurozone einberufen und dabei einen Mitgliedsstaat –
nämlich Griechenland – ausschließen. „Ich bin mir sicher, daß ich das kann“,
habe Dijsselbloem geantwortet.

„Also habe ich
nach einer juristischen Expertise gefragt, was für Unruhe sorgte“, so Varoufakis
weiter. „Schließlich kam ein
Rechtsexperte zu mir und sagte: ‚Juristisch gesehen existiert die Eurogruppe
nicht, kein Vertrag hat sie zusammengerufen.’ Da gibt es also eine
nichtexistente Gruppe, die im Besitz der größten Macht ist, das Leben der Europäer
zu bestimmen. Sie ist keinem Rechenschaft schuldig, sie existiert nach dem
Gesetz nicht. Es werden keine Protokolle geführt, alles ist vertraulich. Es
geht um Entscheidungen beinahe um Leben und Tod, aber kein Mitglied muß sich
dafür verantworten.“

Eine illegale Vereinigung also, die fernab aller Verträge und bar jeder
auch nur minimalsten demokratischen Verankerung Entscheidungen über die
europäische Politik trifft. Und die es geschafft hat, daß sie in der
Öffentichkeit, in allen Medien als etablierte Institution zitiert wird. Davon
kann die Cosa Nostra nur träumen.„Was Varoufakis
erzählt, ist nur ein Beispiel dafür, wie unsere demokratisch gewählten
Staatsapparate mehr und mehr von einem Netzwerk der ‚Agreements’ und nicht
gewählten ‚Expertengruppen’ ersetzt werden – die am Ende die wahre ökonomische
(und militärische) Macht ausüben.“ (Slavoj Žižek)

04.09.2015

Pünktlich, stillgestanden! Soldatische Tugenden im Popjournalismus

Bei der Nachberichterstattung zum Berliner Patti Smith-Konzert in den örtlichen
Radiostationen ist mir wieder einmal aufgefallen, daß als
Begutachtungskriterium für ein Konzert Pünktlichkeit
ein entscheidendes Kriterium der hiesigen Musikjournalisten geworden ist,
etwas, das man in keiner englischen oder französischen Publikation findet.
Rock’n’Roll? Punkrock? Da wären mir viele wichtige Dinge eingefallen... in
Deutschland allerdings ist wichtig am Rock’n’Roll: Pünktlichkeit! Wer hätte das
gedacht.Inforadio: „Patti Smith, die um 20
Uhr 15 pünktlich die Bühne betritt.“Radio Eins: Moderator: „Wie ist es
bei so einer Legende wie Patti Smith, hat die pünktlich angefangen?“
Konzertkritiker Helmut Heimann: „Relativ
pünktlich. Also nicht um Punkt acht, aber um zehn nach acht oder so gings
los... das ist wenn Künstler, die ein gewisses Alter haben, und das Publikum
dann auch schon eher gesetzter ist... die meisten müssen am nächsten Tag
arbeiten, dann geht es pünktlich um acht los, und dann ist man auch um elf oder
so zuhause oder auf dem Nachhauseweg...“ und schon war die erste Minute der
„Konzertkritik“ verplempert.Mal jenseits der Frage, was nun genau dagegen sprechen soll, wenn ein
Künstler oder eine Künstlerin das Publikum in einer ausverkauften Halle an
einem heißen Sommertag nicht stundenlang warten läßt, interessiert mich an der
„Pünktlichkeit“ natürlich das permanente Umherwedeln mit sehr deutschen
Sekundärtugenden – und das hat durchaus System, ständig lesen wir im
Musikjournalismus hiesiger Provenienz, daß ein Album „pünktlich“ erschienen sei
(pünktlich zum Sommeranfang, „pünktlich zum Herbsteinleuchten“, „pünktlich zum
Sommerende und zum Anfang der Clubsaison“, zur Tournee, zu wasauchimmer,
Hauptsache: pünktlich! der deutsche Rockmusiker ist pünktlich! das zeichnet ihn
aus).

Es sind die soldatischen Tugenden, die im deutschen Popjournalismus
unserer Tage munter auferstehen – neben Pünktlichkeit ist das Marschgepäck wichtig – Bands haben ihr
neues Album „im Gepäck“, manchmal
aber auch noch andere Künstler: „Als
Special Guest haben die Musiker BAP-Legende Wolfgang Niedecken im Gepäck.“Oder der deutsche Rock- und Popmusiker macht Meldung, so jedenfalls will
es der Popjournalismus: Der Künstler meldet sich mit einem neuen Album
zurück...Stillgestanden! Gefreiter.. äh... nein: Rockmusiker XYZ meldet sich
pünktlich mit neuem Album im Gepäck zurück!

Und so macht es absolut Sinn, wenn die deutsche Staatspopeinrichtung,
also die Initiative Musik, „zwölf
internationale Spitzenjournalisten“ auf Steuerzahlerkosten zu einer
Rundreise unter dem Motto „Wurzeln der deutschen Musikszene“ nicht nur nach,
genau, Hannover einlädt, der Heimat der Scorpions, der Heimat von Gerhard
Schröder (der ja laut Thomas Meinecke „wie Gott ein DJ ist“ – Meinecke, der von
Schröder ins Kanzleramt eingeladen wurde und „stolz darauf war, eingeladen worden zu sein“), der Heimat von
Heinz Rudolf Kunze und von Ernst August Prinz von Hannover. Sondern die Fahrt
weiter nach Wacken führt, wo die zwölf weltweiten Top-Journalisten (unter ihnen
ein Vertreter des indischen Rolling Stone, des griechischen Metal Hammer und
die Creme de la Creme des Musikjournalismus aus Bangladesch, von den
Philipinnen, Rußland, Rumänien oder aus Südafrika) dann den Ausbund deutscher
Rockmusik, nämlich die Bundeswehrkapelle beim Out of Area-Einsatz, also beim
Abrocken vor einer betrunkenen Masse, begutachten durften (wir berichteten) –
Wurzeln der deutschen Musikszene eben, klar...

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