15.10.2012

Und Ansonsten 10 / 2012

Speaking of „Deutscher Welt-Zustimmungspop“ – ein
Meister darin ist seit jeher der esoterische Christenpopper Xavier Naidoo. Nun
hat Naidoo ein Album mit Kool Savas („Lutsch meinen Schwanz“, „Pimplegionär“)
aufgenommen; der sinnreiche Projektname: „Xavas“, der sinnreiche Albumtitel:
„Gespaltene Persönlichkeit“ – eben das, was rauskommt, wenn ein Gottesanbeter
auf einen Pimplegionär trifft.

Naidoo singt „mit
einer Inbrunst, die das Herz rührt, aber den Verstand vernebelt“ (Harald
Peters in der „Welt“) Texte wie „Und ich
schau nicht mehr zurück / aber wenn ich zurück schau / dann seh ich nur mein
Glück / alles andere habe ich gerne zugeschüttet / und mit schöner Erinnerung
einfach überbrückt“. Schlimm. Eine fürwahr „gespaltene Persönlichkeit“
irgendwo zwischen nordkoreanischer Gehirnvernebelung und tibetanischer
Gebetsmühle, mit „einem Stück weit“ Schwanzgelutsche.

Vollends pervers wird es allerdings, wenn „Xavas“
sich ihren Gewaltfantasien ergeben. Xavier Naidoo war wohl zu lange auf
Truppenbetreuung in Afghanistan, er singt allen Ernstes Texte wie diesen: „Ich schneid euch jetzt mal die Arme und
Beine ab / und dann ficke ich euch in den Arsch / so wie ihr es mit den Kleinen
macht“, heißt es in dem wohl als Protestsong gemeinten letzten Song der
Platte. „Ihr tötet Kinder und Föten. /
Ihr habt einfach keine Größe und eure kleinen Schwänze nicht im Griff.“
Harald Peters weist in der „Welt“ darauf hin, daß Naidoo diesen Song als
„Protestsong“ versteht, in dem es laut Naidoo „um furchtbare Ritualmorde an Kindern geht, die tatsächlich ganz viel in
Europa passieren, über die aber nie jemand spricht, nie jemand berichtet.“
Kool Savas weiß Genaueres: „Okkulte
Rituale besiegeln den Pakt mit der Macht.“

Harald Peters faßt zusammen: „Schwule Kapitalisten entwickeln unter dem Eindruck der Macht eine
unbändige Lust, Kinder abzuschlachten, und schließen sich zu diesem Zweck zu
Geheimgesellschaften zusammen. Verzweifelt erhebt nur Xavier Naidoo seine
Stimme (...) dessen Homophobie mit der Sehnsucht nach einer starken Schulter
einhergeht.“ Denn das Fazit von Xavas und seinem „Protestsong“ ist der Ruf
nach einem Führer: „Wo sind unsere
starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?“

Glauben Sie jetzt alles nicht? Ist aber alles
wahr. Wahnsinn, oder? Und so gewinnt man heutzutage den „Bundesvision Song
Contest“ und belegt Platz 1 der deutschen Album-Charts. „Wo sind unsere
Führer?“ Ich weiß wo...

* * *

Wenn unsere großartige und allseits geschätzte
Bundesregierung sowie unsere allseits beliebten und bewunderten Politiker aller
Parteien, die auch nach Jahrzehnten, die dieses merkwürdige Dingens namens
Internet bereits existiert, immer noch keine Internet-kompatible Gesetzgebung
verabschiedet haben, sich aber gleichzeitig und gern jederzeit in eine Talkshow
setzen, um darüber zu palavern, daß dieses komische Dingens namens Internet
ganz schön gefährlich ist – ich bitte neu ansetzen zu dürfen: wenn diese unsere
Politiker, wenn sie schon sonst wenig hinbekommen, wenigstens an einer Stelle,
die allen wehtut, endlich einmal das Urheberrecht der modernen Zeit anpassen
könnten und dafür sorgen würden, daß die Pest der Abmahnanwälte und ihrer
dubiosen Abmahngeschäfte beendet würde, dann wären wir schon einen Schritt
weiter.

Jüngstes Beispiel: Der Blog „We like that“ hat ein
Foto verwendet, das den „Lego-Künstler“ Nathan Sawaya neben einem seiner Werke
zeigt. Der Blog-Betreiber wurde von einer deutschen Rechtsanwaltskanzlei zur
Zahlung von knapp EUR 3.000 wegen einer „Nutzungsrechtsverletzung auf seiner
Internetpräsenz“ und zur Abgabe einer Unterlassungserklärung aufgefordert. Der
Haken an der Sache: Der Künstler Nathan Sawaya hat nicht nur eine, vorsichtig
gesagt, andere Auffassung von Internetkultur als Agenturen und
Rechtsanwaltskanzleien, die seinen Bildern hinterhergooglen, nein, die
Fotoagentur, die über die Rechtsanwaltskanzlei die Bilder saftig abmahnen läßt,
besitzt an diesen Bildern überhaupt keine Rechte. Nathan Sawaya laut „Perlentaucher“ in einem
Statement zu dem Vorfall: "My
fiancé took the photo. My company owns it. We have not sold the rights
to it. My lawyer is reviewing this matter. I am not represented by the German
law firm who sent the letter. I am not represented by this photo agency." 

Eine
Posse? Sicher. Solange aber dubiose Agenturen mit Hilfe von
Rechtsanwaltskanzleien durchs deutsche Urheberrecht schnelles Geld machen
können, sind derartige Possen leider Wiederholungsfälle. Ein Ärgernis, dem
durch ein modernes, der digitalen Realität des 
21.Jahrhunderts angepaßtes Urheberrecht umgehend ein Riegel vorgeschoben
werden könnte.

* * *

Diesmal ein kleines Ratespiel, bei dem es für uns
alle leider nichts zu gewinnen gibt.

Versuchen Sie doch einmal, diese drei Texte drei
jungen Buchautorinnen zuzuordnen, die dieser Tage meinten, ein Buch
veröffentlichen zu müssen:

„Mein Name ist
Julia und ich lebe im Internet. Ich bin da ziemlich glücklich, habe Freunde,
die ich nur digital kenne und abschalten kann, wann ich will. Ich kann im
Internet alles sein: Mafiaboss, Barbie, Hitler, Hotelbesitzer und ein kleines
grünes Krokodil. Am Computer bin ich Gott. Und dabei fühle ich mich großartig –
großartig böse, kalt und berechnend. Bereits in jungen Jahren, mit 13 oder 14,
war ich mir über die schier endlosen Möglichkeiten der Identitätskonstruktion
bewusst. Das Internet war der Ort, wo ich alles zum ersten Mal erlebte: Liebe,
Sex und Verrat. Aufklärung, Freiheit und Politik. Dort rede, lache, weine und
denke ich. Denn ich bin ein Kind des digitalen Zeitalters, ich bin die, die aus
dem Internet kommt. Und das ist meine Geschichte.“

Und:

„...ich will auf
keinen Fall mehr derart zum Medienereignis werden. Zu sehr haben sich die
Berichterstattungen auf mein Privatleben, aber vor allem auch auf meine Kinder
ausgewirkt. (...) und natürlich wartete er ... nicht mit dem schlechtesten
aller Bodys auf. (...) Der sieht ja gut aus (...) ich habe bei Männern kein
festes Beuteschema.“

Und:

„Nanu-Nana
spezialisiert sich auf Artikel, die man im Ehestreit wütend aus dem Fenster schmeißen
kann. (...) Was mir fehlt, ist Mut. (...) Isländisches Heavy Metal Horror
Ballett gesehen. Jetzt habe ich alles erlebt. (...) Es ist gerade in den
entscheidensten Momenten am schwierigsten, um Hilfe zu bitten. (...) Allein in
Berlin mit zwei Koffern. Obdachlose helfen mir weiter. (...) Ich finde es gut,
wenn man durch Parteiarbeit auch die entlegensten Ecken von Deutschland
kennenlernt."

Nun?

Und gesetzt den Fall, Sie wären ein Verleger – welcher der drei Damen
würden Sie 100.000 Euro Vorschuß für ihr Buch gewähren, und welcher 60.000
Euro?

Und zuletzt: was denken Sie, mit welchem der drei Texte kann man auf
eine Spitzenposition der „Spiegel“-Bestsellerliste gelangen?

* * *

Die Piratenpartei scheint Politik als Echternacher
Springprozession zu betreiben. Wobei man den Piraten mal twittern sollte, daß
die Echternacher Springprozession nicht notwendigerweise den Gang des
Weltgeistes darstellt (nach Adorno).

* * *

A propos Weltgeist: In Trier, dem Ausstellungsort
des „Heiligen Rockes“, kassiert die Pfarrei Liebfrauen laut „Telepolis“ seit
1589 bis heute jährlich etwa 360 Euro Zinsen aus dem Vermögen eines verbrannten
Hexenmeisters von der Stadtkasse, weil der Trierer Dietrich Flade vor seiner
Verbrennung auf dem Scheiterhaufen der Stadt aus seinem Privatvermögen 4.000
Gulden geliehen hat. Den Rückzahlungs- und Verzinsungsanspruch daraus erbte
nach Flades Hinrichtung der Erzbischof, der ihn an fünf Pfarreien weiterreichte,
wovon eine bis heute bei der Stadt abkassiert. Als die Stadtverwaltung vor zwei
Jahren bei der Pfarrei anfragte, ob man den alten Posten nicht endlich
streichen wolle, wurde ihr von der Pfarrei Liebfrauen beschieden, „daß der Titel im Haushalt erhalten bleiben“
müsse, weil er „an dieser Stelle eine
ständige Erinnerung an die Opfer des Hexenwahns“ sei.

* * *

Die sozialdemokratische Troika hat gekreißt – und
heraus kam: ein Nichts. Ein Peer Steinbrück. Ein Vizekanzlerkandidat.
Steinbrück wirkt wie die Inkarnation von Tucholskys Vergleich der deutschen
Sozialdemokratie  mit einem Radieschen
(Original 1926, hier geringfügig aktualisiert): „Ja und hier - ? Die ganz verbockte liebe gute SPD. / Der Peer
Steinbrück, Nahleslieschen / blühn so harmlos, doof und leis / wie bescheidene
Radieschen: / außen rot und innen weiß.“

Steinbrück hat sich zuletzt als tapferer
Bankenbändiger geriert – die Banker seien zu gut aus der Finanzkrise gekommen,
so Steinbrück, die gesamte Bankenbranche habe „zu den Aufräumarbeiten der von mir maßgeblich verursachten
ökonomischen und sozialen Schieflage zu wenig beigetragen“ (haben Sie den
kleinen Tippfehler bemerkt?).

Wir erinnern uns: Als Finanzminister und
Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen hat Steinbrück die deutschen Landesbanken
mit Zähnen und Klauen verteidigt und dem damaligen EU-Kommissar ein Abkommen
abgenötigt, wonach die deutschen Landesbanken staatlich garantierte Schuldtitel
ausgeben durften. Die Landesbanken investierten das gewonnene Kapital zum
großen Teil in toxische Papiere, die Scheingewinne wurden von der Politik
bejubelt, in der Finanzkrise waren es später aber gerade die Landesbanken, die
für die in Deutschland besonders brisante Finanzkrise sorgten. Für die Kosten
mußten im Wesentlichen die Steuerzahler aufkommen.

Ab 2005 tanzte der nun plötzliche selbsternannte
Bankendompteur als Finanzminister im Kabinett Merkel nach der Peitsche der
Banker. Steinbrück kämpfte dafür, daß die Banken mit Steuergeldern aus der
Bankenkrise rausgehauen wurden – die Banken erpreßten den Staat, Steinbrück
sprang wie ein zahmer Zirkustiger durch alle von den Bankern gehaltenen Reifen,
der Staat, also die Steuerzahler, zahlten. „Es
war Steinbrück, der aus den ökonomischen Spekulationen, es könnte Banken geben,
die too big to fail seien, viel zu
groß, um selbst nach schlimmstem Versagen pleitegehen zu dürfen, eine
historische Gewißheit machte. Von Gläubigerhaftung war damals nicht die Rede“,
schreibt die „FAS“. Als Bundesfinanzminister arbeitete Steinbrück an führender
Position am Koalitionsvertrag mit, in dem die Stärkung des Finanzplatzes im
Vordergrund stand. „Produktinnovationen“ wie Hedgefonds müßten „unterstützt“
werden, Regulatoren müßten „mit Augenmaß“ vorgehen. Und wenige Tage vor dem
Bankencrash in Deutschland hielt Steinbrück im Bundestag eine Rede, in der er
u.a. sagte: „Die Finanzmarktkrise ist vor allem ein amerikanisches Problem“,
das deutsche Bankensystem, das die Steuerzahler wenige Wochen später
Zigmilliarden kostete, sei dagegen „äußerst stabil“. Wo immer Steinbrück
politisch zugegen war, hat er das bestehende Finanzsystem zementiert, ist er
Allianzen mit den Banken zum Nachteil der Steuerzahler eingegangen, zeigte er
sich als Banken- und Banker-Freund.

Ein echter Finanzexperte eben, dieser Peer
Steinbrück. Der Vizekanzlerkandidat Isnogood, der Kalif werden möchte anstelle
der Kalifin – nicht mal mehr ein Radieschen, er und seine EsPeDe nicht mal mehr
äußerlich rot...

* * *

„Aufgeschreckt
wie Krankenschwestern eilen die Politiker ans Bett des Kapitalismus und tun so,
als ob sie etwas täten.“ Eric
Hobsbawn, R.I.P.!

* * *

Und wie geht es, wenn ein sozialdemokratischer
Ministerpräsident Bürgerbeteiligung übt? So:

Ministerpräsident Beck gibt dem SWR ein Interview
zum Thema „Bürgerbeteiligung“; da ruft ein Passant etwas Kritisches zum von
Beck zu verantwortenden Millionendebakel am Nürburgring  dazwischen, daraufhin der SPD-Mann: „Können Sie mal das Maul halten, wenn ich
ein Interview gebe? Einfach das Maul halten.“ Auf die Antwort des Bürgers,
er sei nur ehrlich, setzt Beck noch einen drauf: „Sie sind nicht ehrlich, Sie sind dumm.“

Wie wäre es, der Sozialdemokrat wählte sich ein
neues Volk – ein braveres, ein weniger dummes, ein Volk, das einfach das Maul
hält, wenn hochwohlgeboren Beck spricht? Dann kann er dem Staatsfernsehen ja
noch viele Interviews zu Grundzügen der Demokratie und der Bürgerbeteiligung
geben...

* * *

Und was hat die „Hamas“, die Organisation, die von
der EU und den USA als „terroristische Vereinigung“ definiert wird und die
Israel mit terroristischen Mitteln beseitigen will, was also hat die „Hamas“
den deutschen Copyright-Cops voraus? Die Hamas hat nicht nur jungen Frauen das
Mopedfahren verboten und Männern das Arbeiten in Friseursalons, die von Frauen
besucht werden, nein, die Hamas hat jetzt auch das eingeführt, wovon die
deutschen Urheberrechts-Fans träumen: Netzsperren.

Die Hamas sperrt seit Anfang September diesen
Jahres den Zugang zu Webseiten, die das Hamas-Kommunikationsministerium als
„pornografisch“ ansieht. Durchgeführt wird die Sperre laut „Telepolis“ von zehn
Internetprovidern, die im Gazastreifen tätig sind. Laut Ministeriumssprecher
Kamal al-Masr würde man mit der Politik für „sicheren Content“ lediglich
„internationalen Standards“ folgen. Verstoßen Provider gegen die Anordnung der Hamas,
dann drohen ihnen nicht nur telekommunikations-, sondern auch strafrechtliche
Konsequenzen.

              

* * *

Nachdem Tausende von Schulkindern Opfer einer
Brech-Durchfall-Epidemie wurden, fragt der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir
scheinheilig, warum unsere Schulkinder chinesische Erdbeeren auf den Teller
bekommen und nicht frische deutsche Äpfel oder Rhabarberkompott. Ja, warum
wohl? Die Beantwortung dieser Frage können sich Grüne und deren Wähler, die
ihre Kinder bevorzugt auf Privatschulen und Waldorfschulen schicken, wohl nicht
vorstellen. Vielleicht sollte der Grünen-Vorsitzende mal seinen Parteifreund,
den grünen Bezirksbürgermeister von Berlin-Kreuzberg, fragen. Denn it’s the
economy, stupid! Für ein Schulessen werden je nach Bundesland zwischen 2 und
3,50 Euro ausgegeben – für alle anfallenden Kosten, also inklusive
Essensausgabe und Geschirreinigung. Der von den Grünen regierte Berliner Bezirk
Friedrichshain-Kreuzberg etwa hatte im Frühjahr 2012 in einer Ausschreibung von
Schulessen maximale Kosten von 2,10 Euro festgelegt. Seriöse Anbieter haben
daraufhin die Ausschreibung boykottiert, wovon sich wiederum der
SPD-Schulstadtrat „enttäuscht“ zeigte, denn der Bezirk habe doch extra noch
einmal gut 10 Cent „draufgelegt“.

Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
kostet ein „gesundes, sicheres Schulessen
mindestens 4,50 Euro“. „Wer weder bereit ist, eine ausreichende Finanzierung
bereitzustellen, noch für eine einheitliche, praktikable und kostengünstige
Organisation zu sorgen, muß sich hingegen nicht über Kantinen und Zulieferer
wundern, die den Anforderungen an eine gesunde Verpflegung nicht entsprechen“
(„Berliner Zeitung“).

Die Politiker, die weiter Dumping-Preise fürs
Schulessen festlegen, spielen also auch in Zukunft mit der Gesundheit der
Schulkinder. Bis zur nächsten Epidemie.

Übrigens: seit 2009 wird auf Schulessen der volle
Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent erhoben. Die Fast-Food-Ketten dagegen zahlen
weiterhin nur den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent. Haben Sie noch
weitere Fragen?

* * *

Wo aber ist Bradley Manning?