16.12.2010

Und Ansonsten 2010-12-16

Jetzt,
nachdem angeblich paar Päckchen ausm Jemen abgefangen wurden, kriechen sie
wieder aus ihren Löchern, die Protagonisten verschärfter Sicherheitsgesetze.
Die 17 deutschen Innenminister etwa haben Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger gerade aufgefordert, schnell einen Gesetzentwurf
zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung vorzulegen – laut
Bundesinnenminister de Maizière gebe es eine „Sicherheitslücke“.

Mal abgesehen davon, daß das Bundesverfassungsgericht die
Vorratsdatenspeicherung vor kurzem als nicht grundgesetzkonform gekippt hat –
was will man denn mit der Vorratsdatenspeicherung bezwecken? Die Pakete, die
vom Jemen über deutsche Flughäfen nach England und in die USA geraten sind,
wurden ja nicht wegen der fehlenden Vorratsdatenspeicherung von persönlichen
Daten hierzulande nicht entdeckt, sondern weil im Gegensatz zu den
drangsalierten Flugpassagieren gute 90% der Luftfracht gar nicht kontrolliert
werden. Wofür unter anderem der Bundesinnenminister die Verantwortung trägt.
Der aber lieber die Terrorangst schürt, um sogenannte Sicherheitsgesetze zu
verschärfen und den Überwachungsstaat zu perfektionieren.

Ins gleiche Horn wie der CDU-Bundesinnenminister stößt der Berliner
SPD-Innensenator Körting, eine Knallcharge besonderer Qualität, warnt Körting
doch gleich mal pauschal vor „seltsamen Menschen“ und meint damit nicht etwa
Kinderschänder in Soutanen oder seinen migrantenfeindlichen Parteifreund
Sarrazin, sondern „seltsame Menschen, die nur arabisch sprechen“ und „plötzlich
in der Nachbarschaft einziehen“.

Bleiben Sie wachsam!

* * *

Nicht nur „wir sind Lena“ läßt sich von Opel („Jedem Popel einen Opel“, hieß es
weiland...) bezahlen, nun hat der deutsche Automobilkonzern auch Katie Melua eingekauft:
„in europaweiten Werbekampagnen“, heißt es bei „Musikwoche“, soll die
Künstlerin „für Opel (...) Werte wie Umweltbewußtsein und soziale Verantwortung
verkörpern“. „Für diese Werte strengen wir uns an, und diese Werte vertritt
auch Katie Melua auf sehr glaubwürdige und authentische Art“, sagte der „Opel
Vice President Sales, Marketing und Aftersales“. Melua erklärte ihr Engagement
für den Automobilkonzern: „Mir gefällt die Art, wie Opel als Autohersteller
Themen wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit angeht, gleichzeitig aber
Emotionalität und Lebensfreude transportiert.“

Ihr Experte für Aftersales im Kreuzberger Hinterhofbüro erklärt Ihnen gerne,
was das alles wirklich bedeutet: Katie Melua wird ne Stange Geld dafür bekommen
haben, für Opel Reklame zu laufen. Die offene Frage bleibt nur, wer mehr
Emotionalität und soziale Verantwortung verkörpert: Frau Melua oder die Karosse
auf vier Rädern.

* * *

Eine andere auf Tour gehende Litfaßsäule, darauf wies Hagen Liebing im „Tip“
hin, ist der Markenartikler, der unter dem Namen „Fantastische Vier“ durch die
Lande zieht. „Es gibt wohl kaum eine Band in Deutschland, die in den letzten
Jahren so viel Geschick und Eifer dabei bewiesen hat, neben der eigenen Musik
auch gleich noch zahllose Konsumprodukte, Technikinnovationen und Sender zu
bewerben“, stellt Liebing fest. Und Medien-Profi Oliver Ihrens sagt in der
„Musikwoche“: „Es gibt in Deutschland nur wenige Künstler, die eine
vergleichbare Strahlkraft haben und zudem in der Lage sind, ihre Ideen mit dem
Markentransfer in Einklang zu bringen“.

„We’re in it for our sponsoring deal“... da können die in den letzten
Rundbriefen genannten Biertrinke-Bands nur blond werden vor Neid, wie die
schwäbische Litfaßsäule Sponsoring betreibt.

* * *

Und welcher Rocker fand sich im letzten „Rolling Stone“ gleich in zwei
ganzseitigen Anzeigen? Überraschung! Peter Maffay. Einmal spielt er mit einem
„Philharmonic Volkswagen Orchestra“ eine Tournee, einmal macht er für die
Blödzeitung Werbung, „mit der Reife steigt die Qualität“, womit der Altrocker
wohl sowohl sich selbst als auch die Blödzeitung meint. Und wie stehts um das
Orchester mit den Volkswagen?

* * *

Wenn man sich auf die „Initiative Musik“ und auf das „Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie – Referat VIB1 – Medien-, Kultur- und
Kreativwirtschaft“ einläßt, wirds teuer. Das genannte Bundesministerium hat die
„SXSW 2011“, die führende Musikmesse der Welt, „erstmals ins
Auslandsmesseprogramm des Bundes aufgenommen“. Und was bedeutet das konkret?
Laut Bundesministerium und Initiative Musik „profitieren Firmen, die sich im
Rahmen einer offiziellen deutschen Beteiligung präsentieren, von besonders
günstigen Konditionen“. "Besonders günstig" bedeutet: akkreditiert
man sich über Initiative Musik und über das Bundesministerum bei der SXSW in
Austin, kostet einen das 500 Euro. Akkreditiert man sich bei der Messe direkt,
zahlt man nur ca. 460 Euro.

Klar: wer am „Auslandsmesseprogramm des Bundes“ teilnehmen will, ist irgendwie
bescheuert und sollte Strafe bezahlen, sehe ich genauso...

* * *

„Die (...) Medien unterhalten bedauerlicherweise ihre eigenen „öffentlichen
Hausintellektuellen“, die nach Bedarf unverzüglich fertige Meinungen zu jedem
beliebigen Thema liefern. Diese „öffentlichen Hausintellektuellen“ gehören mit
den Medienschaffenden letztlich zu der gleichen Interessensgruppe, deshalb auch
kommen am Fernsehen immerfort dieselben Experten zu Wort. In Wirklichkeit
betreiben diese vermeintlichen „öffentlichen Intellektuellen“ aber seit langem
keine Forschung mehr.“

Dies schrieb Wang Hui, einer der laut NZZ „gewichtigsten Intellektuellen seines
Landes“ den chinesischen Medien ins Stammbuch, im Interview mit der „Neuen
Zürcher Zeitung“. Ist aber, wie man sieht, durchaus allgemeingültig und auch
hierzulande aktuell, wenn man zu Beginn das Adjektiv „chinesischen“ wegläßt...

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Und wofür bezahlen wir unsere Rundfunkgebühren? Etwa für den Film „Die
Hüttenwirtin“, den die ARD produzieren ließ und am Freitag, 19.11.2010, um
20.15 ausstrahlte. Laut „FAZ“-Fernsehprogramm geht es um Folgendes: „Die
Werbemanagerin Sandra arbeitet in Berlin. Als sie von ihrem Vater eine Tiroler
Berghütte erbt, reist sie in ihre Heimat, um die traditionsreiche
Ausflugsgaststätte zu verkaufen. Doch wider Erwarten findet Sandra Gefallen an
ihrem urigen Erbe.“

Ich gebe zu, ich habe diesen Film nicht gesehen. Ich bin aber beim Zappen schon
in unzählige ähnliche Sujets geraten, die sich im hiesigen
öffentlich-rechtlichen Fernsehen breitmachen: Da lebt jemand in der Großstadt,
meistens erfolgreich, aber unglücklich. Dann ruft irgendein Ereignis, meistens
der Tod eines Elternteils und das damit verbundene Erbe, den Großstadtmenschen
zurück in die Heimat – eigentlich will der Großstadtmensch schnell wieder weg,
dann jedoch erlebt er die „Heimat“ als Quelle wahren Glücks, wahrer Werte, und
er oder besonders gerne sie entscheidet sich, in der „Heimat“ zu bleiben.

Ein Blut-und-Boden-Sujet perfekter Qualität, wie es Goebbels und seine
Filmindustrie seinerzeit jahrein jahraus aufführten – und also führen es heutzutage
genauso ewiggestrig ARD und ZDF auf – Großstadt? Anonym und gefährlich. Das
ländliche Leben? Heimat und ehrliche Werte. „Urig“. Erfolg? Nicht so wichtig.
Famillje? Das Ziel der deutschen Fernseherziehung im 21.Jahrhundert. Und wir
dummen Kälber finanzieren diesen reaktionären Scheiß natürlich auch noch
selber.

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Jetzt sind die Urheberverbände vollends durchgeknallt – während die Kinder mit
ihren Laternen die Martinsumzüge besuchten, forderte Christian Krauß,
Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Musikedition, daß sie dafür
gefälligst Lizenzgebühren bezahlen sollen. Die VG Musikedition bietet den
Kindergärten Lizenzverträge an, damit sie neuere Martinslieder nicht illegal
singen lassen – „gerade von „Laterne, Laterne“ gibt es auch neue Textbearbeitungen.
Dabei handelt es sich um geistiges Eigentum, und das müssen wir schützen“,
fordert Krauß im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Es sollen nicht die
Kinder zahlen, sondern die Kitas. (...) Gemeinsam mit der GEMA haben wir alle
Kindergärten angeschrieben und über die Rechtslage informiert. Wir gehen davon
aus, daß sich jetzt auch alle daran halten. (...) Auch musikalische Bildung
kostet eben Geld. Es sollte doch jedem verständlich sein, daß Urhebern auch in
diesem Fall eine kleine Kompensation zusteht.“

* * *

Was sagt Jean-Luc Godard, der dieses Jahr den Ehren-Oscar für sein Lebenswerk
erhält, gerade?

„Ich finde, man sollte für seine Arbeit bezahlt werden, nicht für die
Verwertung seines Produktes. (...) Das Urheberrecht ist eine Fiktion.“

(im Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“)

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Und wovon träumen Staatssekretäre in der Demokratie hierzulande?

„Für mich ist das eine der schönsten Aufgaben – ein Schloß zu bauen.“

Rainer Bomba (CDU), Staatssekretär im Bundesbauministerium

* * *

 

„People want to validate themselves with art. And that’s tedious. They want
celebrity. It’s tedious in pop music and it’s worse in art.“

Billy Childish

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Der "Spiegel" hat Papiere von "Wikileaks" aufgekauft und
präsentiert diese Köttel als Riesenskandal - aber was steht in den sogenannten
"Geheimpapieren" denn drin? Das, was jeder Journalist hierzulande
über Politiker schreibt. "Teflon-Merkel" entscheidungsschwach,
Westerwelle kann keine Außenpolitik, eben derartige Binsenweisheiten, die der
"Spiegel" einem jetzt als investigativen Journalismus verkauft. Mon
dieu.

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Ebenfalls zur Verwunderung gibt das große Medien-Theater Anlaß, das um die
Veröffentlichung der Studie zum Auswärtigen Amt betrieben wurde - perdauz, nun
sollen während der Zeit des Nationalsozialismus im Auswärtigen Amt Hitlers doch
tatsächlich Nationalsozialisten gearbeitet haben! Wir sind schockiert. Am Ende
wird der "Spiegel" noch aufdecken, daß sogar sein November-Coverheld
Joseph Goebbels ein Nazi war... das wäre dann in der Tat investigativer
Journalismus der allerfeinsten Sorte...

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Der Musikindustriesprech-Werbetext des Monats:

„Hier ist Annie Lennox ein unerhört aufregendes Weihnachtsalbum gelungen, das
zugleich klassisch und zeitgenössisch, anrührend und mitunter sogar polemisch
ist. (...) Es ist keines der süßlichen, belanglosen Weihnachtsalben, mit denen
der Markt kurz vor dem Fest alle Jahre wieder überflutet wird. (...) Um einen
volleren Klang und zusätzliche Dynamik zu erreichen, arbeitete sie mit einem
30-köpfigen Orchester zusammen.“

Das Album habe ich nicht gehört, aber ich glaube beim Blick aufs Tracklisting
sofort, wie „unerhört aufregend“ das Album sein muß – Lieder wie „Silent night“
oder „The First Noel“ hat man ja bisher quasi noch nie auf CD gehört – und „The
Holly And The Ivy“ ist wahrscheinlich der Song, der mit „sogar polemisch“
gemeint sein dürfte. Vor allem freue ich mich über die brillante Idee, wie die
Künstlerin auf unnachahmliche Weise einen „volleren Klang“ und „zusätzliche
Dynamik“ erreicht hat – auf die Idee, zu diesem Behufe einfach ein „30-köpfiges
Orchester“ zu engagieren, muß man erstmal kommen! Wenn sich das in der
Musikbranche nur nicht rumspricht...

Am Ende kommt noch jemand auf die unerhört aufregende Idee, „Ihr Kinderlein
kommet“ mit einem volleren Klang und zusätzlicher Dynamik auszustatten – wo
doch hierzulande neuerdings jede Rockband, die nicht rocken kann, sich ein
Orchester dazumietet, um nachzuweisen, daß sie auch garantiert nicht
arrangieren kann noch sonst etwas zu bieten hat.

Genießen Sie trotz aller „sogar polemischen“ Weihnachtslieder die Adventszeit!