28.10.2015

Album-Charts: Kastelruther Spatzen, Janet Jackson, Streaming...

Und was war jetzt da los? Auf Platz 1 der offiziellen deutschen
Album-Charts thronen nicht Sido, nicht Pur, nicht Helene Fischer und schon erst
recht nicht Avicii, Iron Maiden, die Editors oder Janet Jackson, sondern: die
Kastelruther Spatzen!!!Wie kommt denn sowas?Es gibt eine einfache Erklärung: Generell werden immer weniger Alben
verkauft, also weniger CDs, weniger LPs, weniger Downloads. Die deutsche
Tonträgerindustrie weigert sich seit jeher, absolute Verkaufszahlen zu nennen,
anders als die US-amerikanischen oder britischen Charts erfahren wir also nur
relative Plazierungen, keine wirklichen Zahlen. Denn wenn Sie wüßten, wieviele
bzw. wie wenige Alben auch von hoch in den Charts platzierten Künstlern
tatsächlich verkaufen – Sie würden nur den Kopf schütteln und sagen, was soll denn
das dann noch.Dies gilt vor allem für die Musik, die die jungen Menschen hören. Dort
wird gestreamt, was das Zeug hält, und so, wie längst viel mehr unter 30jährige
YouTube schauen als alle öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme zusammen, so hören
die unter 30jährigen ihre Musik eben im Stream, bei YouTube, Spotify & Co.
Sie kaufen einfach keine sogenannten physischen Tonträger mehr.

Doch es gibt Ausnahmen: Und das gilt für Nischenprodukte, die nicht
gegensätzlicher sein könnten. Die Käufer der Schlagerrockmusik, die gemeinhin
als „volkstümlich“ bezeichnet wird, sind natürlich keine Fans der modernen
Welt, sind keine Digitalfreaks, sondern kaufen ihre Tonträger schön brav als
CD. Und zwar so gut wie alle Fans dieser Musik. Bedeutet, daß eine in etwa gleich
bleibende Zahl von KäuferInnen Tonträger von Bands wie den Kastelruther Spatzen
kauft, während Musik des Pop- und Rock-Mainstreams, vor allem aber Musik, die
junge Menschen hören, weniger bis kaum noch gekauft wird. Bedeutet: die einen
haben konstante Verkaufszahlen, die anderen deutlich geringere, was dazu führt,
daß man mit der in etwa gleichbleibenden Zahl von Käufern plötzlich als
Kastelruther Spatzen auf Platz 1 der deutschen Album-Charts stehen kann.Dies gilt übrigens in ähnlichem Ausmaß auch für die Hörer
anspruchsvoller Indie-Musik. Auch hier haben wir es mit einigermaßen konstanten
Käuferzahlen zu tun, Fans, die ihren Bands die Treue halten. Was dazu führt,
daß Bands, die früher eher nur auf hinteren Positionen der Album-Charts zu
finden waren (wenn überhaupt), plötzlich unter den Top 10 zu finden sind.Und herausragende Jazz-Alben wie „The Epic“ von Kamasi Washington
schaffen den Wiedereinstieg in die Albumcharts auf Platz 32, wenn ihre Musik
auf Vinyl erscheint; im Sommer, bei Erscheinen der CD-Version, gelang Kamasi
Washington schon einmal der Charts-Einstieg, seinerzeit auf Platz 47. Die
realen Verkaufszahlen sind o.k., aber nicht höher als früher – nur reichen
diese Verkaufszahlen heutzutage eben für höhere Charts-Platzierungen.Das Gegenteil kann man bei Musik beobachten, die früher die Albumcharts
dominiert hat, bei Musik, die in den Feuilletons und Musikmagazinen nach wie
vor ausführlichst gefeatured wird, Alben, für die die Plattenfirmen irrsinnig
teure Werbekampagnen mit Anzeigen und bundesweiten Plakatierungen finanzieren –
was aber alles nichts nützt. Das neue Album von Janet Jackson ist etwa auf
Platz 34 in den Charts eingestiegen, also trotz millionenschwerer Werbekampagne
und embedded Berichten der Zeitungen und Magazine noch hinter dem Jazzer Kamasi
Washington. Und selbst das neue Album von Keith Richards schaffte es nur eine
Woche auf Platz 3 und ist zwei Wochen später bereits auf Platz 16, also in die
Zone kommerzieller Bedeutungslosigkeit abgerutscht.

Was lernen wir daraus? Das „Verkaufs-Paradigma“, wie Bob Lefsetz es
nennt, ist heutzutage bedeutungslos. Es ist irrelevant, wenn Künstler zehn
gute, selbst geschriebene Songs aufnehmen (wir reden hier nicht von
künstlerischer Relevanz, und wir reden nicht von den old school-Freaks, die
tolle Musik auf Vinyl kaufen, oder von den Schlagerrock-Fans, die sich ihre
Kastelruther Spatzen auf CD besorgen; wir reden von Charts-Musik!). Es kommt
darauf an, einen tollen Song hinzubekommen. Und der wird gehört. Millionenfach.
Zigmillionenfach. Dort, wo die Musik spielt: im Stream!Und wenn man sich die Streaming-Charts anschaut, erfährt man noch etwas,
was interessant ist: Die Fans vertrauen Künstlern, deren Hits sie lieben. „Acts
become bigger than their singles“ (Lefsetz). The Weeknd hat sechs Songs in den
US-Top 50 von Spotify – wie es den Beatles in den 1960er Jahren gelang. Nur:
heute bekommt The Weeknd für jedes Anhören seiner Singles Geld, die Beatles
bekamen es seinerzeit nur einmal beim Verkauf einer LP. Und jetzt raten Sie
mal, mit welchem Modell mehr Geld verdient wird. Und Lyor Cohens Fetty Wap hat
fünf Tracks in den Top 50 von Spotify USA. Fetty was? Und auch Drake hat fünf
Songs in den Top 50, Ed Sheeran immerhin drei.Die Künstler werden also heutzutage „gezwungen“, wieder Konzerte zu
spielen, weil der Tonträgermarkt zusammengebrochen ist – ach ja? Tatsächlich?!?
Wer so etwas schreibt, hat einfach keine Ahnung. Fast alle erfolgreichen Acts,
die mit Streaming Millionen verdienen, spielen auch zahlreiche Konzerte. Und
gleichzeitig gibt es Bands, die in den Charts kaum eine Rolle spielen (ob in
den deutschen Album- oder in den US-Spotify-Charts), die aber ein großes und
treues Live-Publikum haben. Musterbeispiel: die Rolling Stones. Oder Madonna.
Wahrscheinlich auch Janet Jackson, die 2016 nach Deutschland kommen wird.Manchmal lohnt es sich, die Charts näher zu betrachten.