Jubiläum: 30 Jahre Agentur Berthold Seliger!

Ein paar Anmerkungen zur Geschichte der Konzertagentur

Wer hätte das gedacht, als ich vor dreißig Jahren, im Juni 1988, meine Firma ins Gewerberegister der Stadt Fulda (bis zum Jahr 2000 Sitz dieser Agentur) habe eintragen lassen! Im September 1988, genauer gesagt am 8.9.1988, fand das erste von meiner Agentur veranstaltete Konzert statt: ein ausverkaufter Auftritt von Gerhard Polt & den Biermösl Blosn. Wenn man genau sein will, handelte es sich dabei um ein Zusatzkonzert, denn das erste Konzert war eigentlich für den 9.9.88 geplant (der Zahlenfreak in mir freut sich natürlich über diese Zahlenfolge, und die Chinesen werden von den Achten begeistert sein, einer chinesischen Glückszahl...), das war aber rasch ausverkauft, und ich konnte Gerhard Polt & die Biermösl Blosn für ein Zusatzkonzert am Tag davor, dem 8.9.88 (noch mehr Achten!), gewinnen. Von da an gings bergab... haha. Na, jedenfalls erstmal.

Der Auftritt von Gerhard Polt & den Biermösl Blosn (deren Christoph „Stofferl“ Well ein Klassenkamerad aus Fürstenfeldbrucker Gymnasiumszeiten ist) war Teil eines Saisonprogramms in Fulda – sozusagen der Versuch, die Kultur anzubieten, die damals in Fulda fehlte...

Gerhard Polt und Berthold Seliger beim öffentlichen Konzertgespräch im Hotel Kurfürst Fulda, 1988.

Bei Durchsicht der alten Presseberichte fiel mir auf: Es ging damals, also „frührer“, wie Gerhard Polt sagen würde, bereits darum, „Hörgewohnheiten zu erweitern“, selten gespielte Werke aufzuführen, „Hörroutinen beiseite zu legen, Neugierde zu wecken“ und „Zusammenhänge zwischen den verschiedensten Musikstilen zu entdecken“. Dieses Motto zieht sich auch durch die folgenden 30 Jahre Kulturarbeit.

Es folgte ein Jahr mit anspruchsvollen Konzerten in Fulda. Schon damals: eine Mischung aus Singer/Songwritern, vulgo „Liedermachern“ (u.a. Barbara Thalheim und Gerhard Schöne), interessanten besonderen Projekten wie das tolle „Tango mortale“-Programm der Cellistin Anja Lechner mit Peter Ludwig, ein Auftritt des Frankfurter Kurorchesters, deren große Anne Bärenz (R.I.P.!) und Frank Wolff auch ein exklusives Instrumental-Programm mit Schuberts „Winterreise“ nur mit Cello und Klavier auf Schloß Bieberstein (dort stand ein von Hindemith in den 1920er Jahren gestifteter Blüthner-Flügel; siehe auch Hindemiths Klaviersuite „Auf Bieberstein“...) bestritten, u.a.m. Am Ende der Saison war ich um etliche Erfahrungen reicher und um einen deutlich fünfstelligen Betrag ärmer...

Seit Anfang 1989 dann die Tätigkeit als Tourveranstalter in D, A und CH; erste Künstlerin unter Vertrag: Barbara Thalheim. Erste Künstler, die ich neu in die damals noch existierende BRD gebracht habe: das Duo Sonnenschirm aus Leipzig und Dresden.

Ich will jetzt wahrlich nicht alle der doch mehrere Hundert Künstler*innen und Bands aufzählen, die ich im Lauf der 30 Jahre als deutscher Tourveranstalter, in Österreich und der Schweiz und seit 1994 auch als Europaagent betreuen durfte. Aber an einige wenige möchte ich doch erinnern:
Ich war (und z.T. bin) Europaagent u.a. von Tortoise,

von Lambchop

Mit Lambchop auf Tournee in Moskau.

und Calexico (jeweils von Beginn ihrer europäischen Karriere an), von The Walkabouts, The Residents,

von Lullaby For The Working Class, Woven Hand, Iron & Wine und von Townes Van Zandt (und wann immer ich danach gefragt werde: es gehört zu den größten Dingen in meinem Leben als Konzertagent überhaupt, daß ich mit Townes Van Zandt die letzten Jahre seines Lebens als Europaagent zusammenarbeiten durfte!)

Ich hatte Townes, der immer knapp bei Kasse war, einen Vertrag mit den Freunden von Normal Records vermittelt, wo eine Reihe von Konzertmitschnitten veröffentlicht wurde. Hier mit Widmung für seinen Agenten.

Mit Townes und seinem großartigen Tourmanager Luc Wouters nach einem Konzert.

und von Built To Spill, Lee Hazlewood oder Pere Ubu.
Ich durfte seit 1993 mit der französischen Band Bratsch zusammenarbeiten und für sie genau 350 Konzerte organisieren, bevor sie sich aufgelöst haben – ein anderes Agentenhighlight.

Mit Dan Gharibian und Bruno Girard von Bratsch, Berlin, März 2006

Da waren und sind die sogenannten Weltmusik-Künstler*innen, wie das Terem Quartet, der große Alim Qasimov (UNESCO-Musikpreis-Träger), wie Ferus Mustafov, Boban Markovic, June Tabor, La Chicana, Triakel, Cicala Mvta, Djivan Gasparyan, Muzsikás, Tarika, Ti Coca oder die Sabri Brothers, und last but not least der große Daniel Kahn und seine Painted Bird. Und da waren all die wunderbaren afrikanischen Musiker*innen wie Youssou N’Dour (dessen Tournee mit seiner Lehrerin Yandé Codou Sène und dem ersten Auftritt con Cheikh Lô außerhalb Afrikas gehört zu den All-Time-Highlights der Agenturgeschichte; das Album „Gainde“ sowie ein WDR-Mitschnitt legen bis heute eindrucksvoll Zeugnis davon ab), Baaba Maal, Rokia Traoré, Kandia Kouyaté, Konono N°1, Mamar Kassey, Super Cayor de Dakar, Noura Mint Seymali u.v.a.m.

Youssou N'Dour, backstage

Und natürlich all die US-amerikanischen Bands und Musiker*innen, ob die ganz großen Namen oder die unbekannten Bands:

16 Horsepower, Bonnie ‚Prince’ Billy (und auch schon die Palace Brothers), David Byrne (unvergessen seine a capella-Version von „Heaven“ als Zugabe seines Berliner Konzerts, von der Kanzel der Passionskirche aus gesungen...), Chris Cacavas (mein erster „Rock“-Act), Catpower, David Crosby, The Czars (die Band eines gewissen John Grant, damals, Mitte der 1990er, so erfolglos wie großartig), Eleventh Dream Day, Alejandro Escovedo, The Flaming Lips, Freakwater, Mary Gauthier, Giant Sand, Philip Glass, Penelope Houston, Daniel Johnston, Alison Krauss, The Magnetic Fields, Mazzy Star, Mekons, Midlake, Magnolia Electric Co., Hans Olson (der Bluesman aus Arizona, Tom Waits-Fan werden ihn als „the light man’s blind in one eye“ aus „The Piano Has Been Drinking“ identifizieren...), One Foot In The Grave, Lou Reed,

Anzeige zur großen Lou Reed-Tour im Sommer 2012 - die seine letzte Deutschland-Tour werden sollte...

Henry Rollins, Michelle Shocked, Patti Smith,

Patti Smith: 40 Jahre "Horses"-Tournee 2015 - die wirtschaftlich erfolgreichste Tournee der Agenturgeschichte.

Smog, Spoon, Dan Stuart, Television, Van Dyke Parks, Tom Verlaine, Ben Weaver oder Lucinda Williams – to name just a few...

Oder ich denke an – sagen wir: Cordelia’s Dad. Die Bedlam Rovers. Die Fellow Travellers, die das seltene Kunststück fertigbrachten, sowohl die SPEX-Leser*innen- als auch die SPEX-Redaktionspolls, also die Jahresbestenlisten, zu gewinnen, und das zu Zeiten, als diese noch etwas bedeuteten. Und ihr „A Few Good Times“ ist und bleibt einer der besten Songs aller Zeiten!
Combustible Edison. Live Human. Michael Hall („Let’s Take Some Drugs And Drive Around“ – was für ein Monster von einem Song!), The Schramms, Southern Culture On The Skids. Souled American! Epic Soundtracks (R.I.P.!). Louis Tillett. Hermann Dune. Bands und Musiker*innen, die kaum mehr jemand kennt, die aber zu den wunderbarsten gehören, mit denen ich je zusammengearbeitet habe. Immer wieder zeigt sich, daß Quote, daß kommerzieller Erfolg nebensächlich sind, daß es aber unbedingt auf Qualität ankommt.
Oder der großartige El Vez, der „mexikanische Elvis“, mit seinen Lovely Elvettes

Die "Lovely Elvettes" hatten eigene Autogrammkarten...

und den Memphis Mariachis. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die El Vez in die Harald Schmidt-Show (unvergessen, wie er und seine Band, alle in Che Guevara-Uniformen, mit ihrem „Rock’n’Revolution“-Programm das Studio stürmten und Publikum und Moderator „verhafteten“...) und auf die Hauptbühne (!) von Roskilde (!) führte – wo dann, im Graben vor der Bühne, plötzlich ein gewisser David Bowie, der nach El Vez spielen würde, neben mir stand und mich anlächelte und sagte, wie toll er El Vez fand; und daß David Bowie El Vez nach dessen Show gratulierte, war für El Vez das Highlight all seiner europäischen Tourneen, die ich im Lauf der Jahre organisieren durfte...

Und natürlich, da waren auch John Cale, Julie Delpy, Faust, Michel Houellebecq (!), Dirty Three, Kings of Convenience, der wunderbare Markku Peltola (der zwar als Kaurismäki-Schauspieler eine gewisse Berühmtheit hatte, aber als Musiker gänzlich unbekannt war, sein zauberhaftes Buster Keaton-Album hatte damals nicht einmal 50 Exemplare in D verkauft; die Tournee mit Markku Peltola und seiner Kammerfolk-Band war ein Traum! R.I.P.!),

und das großartige japanische Shibusashirazu Orchestra (heute kann ich das auswendig, damals hatte ich erstmal einen Zettel mit deren Namen auf meinem Schreibtisch liegen...). Wie oft habe ich jetzt in diesem Text eigentlich schon „großartig" gesagt?
Und natürlich Les Tambours Du Bronx, die ich als erster nach D gebracht und dann etliche Jahre vertreten habe.

Es gab die verschiedensten Festivaltourneen – legendär das Festival „Hit Me With A Flower!“ 1993 (zusammen mit Spex, wo es eine Titelstory zu den „New Sounds Of San Francisco“ gab; der gleichnamige Sampler ist längst vergriffen), mit Penelope Houston, den Bedlam Rovers, Sonya Hunter u.a., oder die Festivaltournee mit Vic Chesnutt, Lambchop und einer opening band namens Calexico, die Labelchef Christof Ellinghaus und ich kurzfristig ins Programm gehievt haben (die ersten Shows von Calexico in Europa überhaupt) – von Oslo aus durch ganz Europa. Oder 1997 eine Tournee mit dem einigermaßen famosen Line-Up Tortoise, Mouse On Mars, Salaryman und Long Fin Killie unter dem Titel „Wow! & Flutter“. Those were the days...

Aber die Geschichte ist ja noch lange nicht zu Ende, in den letzten Jahren kamen hinzu: Dirtmusic, Jambinai, Rebeca Lane, Rufus Wainwright, Saz'iso oder jüngst gerade Maurice & die Familie Summen...

Zu einer goldenen Schallplatte hat dies alles jedoch nicht... oh, Moment mal: zu einer goldenen Schallplatte hat es doch gereicht – die erhielt ich allerdings nicht als Tourveranstalter von Calexico (merkwürdig eigentlich), von Lambchop oder Tortoise (was jeweils besonders toll gewesen wäre), sondern von – Yann Tiersen. Aber unsereiner sieht bei derartigen Verleihungszeremonien sowieso eher fehl am Platz aus, würde ich sagen, sehen Sie selbst:

Mit Yann Tiersen, Christof Ellinghaus u.a. bei der Verleihung der Goldenen Schallplatte für den "Amelie"-Soundtrack (in meinem Fall: für die dazugehörige erste Tour von Tiersen in D).

Auf Spotify habe ich eine Playlist zusammengestellt mit vielen Künstlern dieser Agentur, querbeat durch die Geschichte sozusagen, 95 Tracks von Gerhard Polt bis Daniel Kahn, von Bratsch bis Lambchop, von Patti bis Lou und, natürlich, von Townes bis Townes (und ich habe jeweils versucht, Stücke aus der Zeit auszuwählen, als ich die Künstler vertreten habe):
Playlist 30 Jahre Berthold Seliger Konzerte

* * *

Kein Zweifel: Sie dürfen sich den Konzertagenten Berthold Seliger, um Camus’ Sysiphos heranzuziehen, als glücklichen Menschen vorstellen. Denn es war ein Privileg, eine Ehre und eine Freude, in dreißig Jahren mit all diesen großartigen Musiker*innen zusammenarbeiten zu dürfen – Luxus pur!
Ich hab sie nicht gezählt, es werden aber ein paar Tausend Konzerte gewesen sein, eine hohe vierstellige Anzahl von Shows. Und zwar in genau 31 Ländern auf 5 Kontinenten. It has been quite a trip, believe me!

Und diese lange Reise wäre nicht möglich gewesen „without a little help of my friends“:
nicht ohne die Musiker*innen und Bands,
nicht ohne all die engagierten Veranstalter*innen und Club-Betreiber*innen, mit denen ich über Jahre und Jahrzehnte vertrauensvoll zusammenarbeiten durfte,
nicht ohne meine Mitarbeiter*innen (ich möchte an dieser Stelle nur an den viel zu früh verstorbenen Jens Pape erinnern) und
nicht ohne meine Partner („Subagenten“) in etlichen Ländern,
nicht ohne all die die Festivals, die meine Acts gebucht haben,
nicht ohne den einen oder anderen Agenten,
nicht ohne einige Plattenfirmen, mit denen ich vertrauensvoll zusammenarbeiten durfte (und es wird Sie nicht wundern, daß das vornehmlich "Indies" waren...),
nicht ohne die vielen coolen und kompetenten Musikjournalist*innen (die es tatsächlich gibt! auch wenn Sie, zugegeben, bei Lektüre meines Rundbriefs oder Blogs mitunter einen anderen Eindruck gewinnen könnten...) –
vor allem aber: nicht ohne das Publikum! Ohne all die neugierigen und vielseitig interessierten Menschen, die sich immer wieder neu auf das einzigartige Erlebnis „Konzert“ einlassen. Glauben Sie mir, das ist keine Worthülse: Ich bin wirklich unendlich dankbar dafür!

Seit dem 15jährigen Jubiläum wird alle fünf Jahre gefeiert – zum 20jährigen gab es ein Festival in der ColumbiaHalle, u.a. mit Calexico und dem Boban Markovic Orkestar – die beiden Bands konnten nicht voneinander lassen und spielten noch nach Mitternacht unverstärkt gemeinsam mitten im Publikum weiter – unvergessen! Jens Balzer schrieb in der „Berliner Zeitung“ sehr schön von einer „alles umarmenden kalifornisch-serbischen Jam; als polyglotte Marschkapelle zogen Calexico und die Markovic-Bläser in die Mitte des Saals.“
Vom nämlichen, sehr geschätzten Autor im selben Artikel diese Beschreibung von yours truly:
„Alles Gute möchten wir an dieser Stelle auch Berthold Seliger wünschen: Der nicht nur ungewöhnlich geschmackssichere, sondern mit selten gewordener Leidenschaftlichkeit keinem Streit (auch nicht mit der Popredaktion dieser Zeitung) aus dem Weg gehende Konzertveranstalter...“
Wo Jens Balzer Recht hat, hat er Recht ;-)
Wobei man, wenn man so etwas liest, auch ein wenig sentimental wird, denn das ungewöhnlich spannende Pop-Feuilleton der „Berliner Zeitung“ wurde vom Verlag längst weggespart, und Jens Balzer schreibt als freier Autor mittlerweile andernorts – these are the times...

Zum 25. Geburtstag der Agentur dann ein großes Open Air auf der Berliner Zitadelle, mit Patti Smith, Calexico, Bratsch und Depedro, und das Publikum bekam eine CD mit Live-Aufnahmen von Künstlern der Agentur geschenkt, der sechsten Ausgabe einer Reihe von CDs mit dem Titel „Absolutely Live“, mittlerweile rare und gesuchte Sammlerstücke (auf frühen Editionen z.B. Songs von Townes Van Zandt, Lambchop, Calexico, Bratsch, z.T. unveröffentlichte Stücke – Calexico’s All-Time-Hit „Crystal Frontier“ wurde in einer Live-Aufnahme vom Roskilde-Festival auf „Absolutely Live“ sogar das allererste Mal veröffentlicht!).

Eines der vielen Interviews zum 25. Jubiläum, hier mit dem wundervollen Hagen Liebing (R.I.P.!) für das "TIP"-Magazin:

Ende 2013 erfolgte dann die Transformation der „Konzertagentur Berthold Seliger" in das jetzige „Berthold Seliger - Büro für Musik, Texte & Strategien". Ein bewußter Schritt zur Kleinheit, zum Teilzeitagenten, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben. Seither entstanden drei Bücher, „Das Geschäft mit der Musik" (2013; aktuell in der 7.Auflage), „I Have A Stream" (2015) und „Klassikkampf" (2017; auch bereits in der 2.Auflage) und zahlreiche Artikel.

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„Verdienste erwarb ich mir keine, aber das waren die wunderbaren Jahre", heißt es in Truman Capotes „Grasharfe", und ungefähr so empfinde ich es nach 30 Jahren als Konzertagent auch. Das größte, wenn nicht das einzige Verdienst, das ich mir in all den Jahren erworben habe und worauf ich tatsächlich ein klein bißchen stolz bin: Ich habe in diesem Haifisch- und Piranha-Becken tatsächlich drei Jahrzehnte überlebt. 30 Jahre, und es gibt mich immer noch (wenn auch seit 2013 in aus freien Stücken gewählter kleinerer Konfiguration, um dem Bücherschreiben mehr Raum zu geben). Wenn das kein Grund zum Feiern ist!

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Für musikalische Vielfalt!
Für Neugierde auf musikalische Überraschungen jenseits vorgefertigter Schubladen!
Pro bono, contra malum!
(ich hoffe, Sie merken auch die Selbstironie...)