02.05.2012

Französische Wahl und Intellektuelle

Wer wissen will, wie viele der dämlichen und überflüssigen
Feuilleton-Debatten gemacht werden, kann am 27.April in der „NZZ“ bei Jürgen
Ritte lesen, daß sich die französischen Intellektuellen aus dem
Präsidentschaftswahlkampf weitgehend heraushalten. Höchstens die
Rückständigkeit der politischen Visionen und der Mangel an Ideen werde gelegentlich kritisiert. Dabei, findet
Ritte, sei es doch gerade die Aufgabe der Intellektuellen, Ideen zu produzieren.

Eine Woche
später, am 2.Mai, deckt Joseph Hanimann in der „SZ“ auf: „Nie waren in den letzten dreißig Jahren die Pariser Intellektuellen in einem Wahlkampf so stumm wie diesmal.“

Nun, wer
Intellektuelle und Philosophen wie Sloterdijk oder Richard David Precht oder
Grass in seinem Land weiß, der kann natürlich munter Steinchen aus dem Glashaus
werfen, es klirrt ja so schön...

Ein Buch wie
Alain Badious „Wofür steht der Name Sarkozy?“ habe ich von einem deutschen
Intellektuellen jedenfalls nicht gelesen. Und es gäbe keinen deutschen Verlag
(außer diaphanes natürlich), der so etwas drucken würde, und kaum Medien, die
derartige Thesen diskutieren würden – „...die
desaströsen Konsequenzen jenes parlamentarischen Fetischismus, der bei uns für
„Demokratie“ steht...“ oder „...was
ist einförmiger als die „freien“ Individuen der Marktgesellschaft, die
zivilisierten Kleinbürger, die wie die Papageien ihre lächerlichen Ängste
wiederholen?“ oder „es geht darum,
die demokratischen Formen eines Staatsterrorismus zu finden, die auf der Höhe
der Technik sind: Radar, Fotos, die Kontrolle des Internet, systematisches
Abhören aller Telefone, Kartographie der Ortsveränderungen... Am staatlichen
Horizont zeichnet sich ein virtueller Terror ab, dessen Hauptmechanismus die
Überwachung sowie in zunehmendem Maße auch die Denunziation ist.“ So Badiou
in seinem 2007 erschienenen Buch, vor der Wahl Sarkozys zum Präsidenten des von
ihm kreierten und von der deutschen „Kreativindustrie“ so gerne bejubelten
Hadopi-Staates...

Aber die
süddeutschen und Schweizer Feuilletonisten können anscheinend nicht nur keine
Bücher lesen, sondern scheitern auch am Studium der wichtigsten französischen
Zeitschriften. Am 18. April war im Nouvelle Observateur (das ist von Einfluß
und Bedeutung vielleicht mit dem „Spiegel“ hierzulande zu vergleichen) ein
großes Interview mit Jacques Rancière, einem der wichtigsten Philosophen
unserer Tage, unter dem Titel „L'ÉLECTION,
CE N'EST PAS LA DÉMOCRATIE“ zu lesen – ja, ganz richtig, Rancière stellt fest:
Die Wahl, das ist keine Demokratie!

Frankreich, du hast
es besser – Philosophen des Kalibers Rancière haben wir in Deutschland nicht.
Wir müssen mit Feuilleton-Zeilenschindern vorlieb nehmen, die uns erzählen, daß
die französischen Intellektuellen so stumm sind wie seit dreißig Jahren
nicht...