06.08.2011

Und Ansonsten 2011-08-06

Wie den Medien zu entnehmen war,
zieht Ex-Minister von und zu Guttenberg für ein Jahr in die USA und plant, dort
ein Buch abzuschreiben.

* * *

Die Nutzer von
Video-on-demand-Seiten gehen weit häufiger ins Kino als der Durchschnitt –
Leute die sich im kostenlosen Internet auf Video- und Filmplattformen
rumtreiben, kaufen teurere Kinokarten, kaufen mehr DVDs und lassen insgesamt
viel mehr Geld bei der Filmbranche. Die Leute nutzen die von der Filmindustrie
verteufelten Webseiten keineswegs nur als Kinoersatz, sondern genau umgekehrt,
als zusätzliche Anregung.

Die Klügeren unter Ihnen werden
jetzt sagen: „Logisch, wußten wir schon lange, was soll das?“ Gewiß doch. Neu
ist allerdings, daß dies die Ergebnisse einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung,
GfK, sind, die üblicherweise „ein treuer Diener ihrer Auftraggeber“
(„Berliner Zeitung“) ist. In der „FAZ“ und kurz danach auch in der „Berliner
Zeitung“ war nun von dieser Studie zu lesen, die ein ziemlicher Schlag ist für
die von der Verwertungsindustrie krampfhaft aufrecht erhaltenen Legende von den
„gierigen Web-Usern mit Umsonst-Mentalität, die den Verleihern, Kinobetreibern
und DVD-Händlern Millionenschäden bescheren“ („Berliner Zeitung“). Die Studie „widerspricht
der Piratenhetze der Filmindustrie“ („FAZ“).

Insofern erscheint es nur logisch,
daß die Studie krampfhaft unter Verschluß gehalten wird – es darf bekanntlich
ja nicht sein, was nicht sein darf – wenn die Wahrheit ans Tageslicht käme,
noch dazu veröffentlicht von einer industriefreundlichen Institution, dann
würde das von der Verwertungsindustrie mühsam konstruierte Märchen vom
Feindbild Film- (und Musik-)Pirat wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, und die
Scharfmacher der öffentlichen Debatte stünden plötzlich reichlich nackt da.

Dumm nur, daß die Ergebnisse der
Studie nun im Feuilleton von „FAZ“ und „Berliner Zeitung“ standen. Und klar
natürlich, daß diese Ergebnisse vom „embedded music journalism“ a la Musikwoche
totgeschwiegen werden, wo sonst jeder Furz, den Gorny und Konsorten lassen,
eifrig abgedruckt wird...

 * * *

 Just an dem Sonntag, an dem
die „FAS“ auf ihrer Titelseite meldete „Saudi-Arabien unterstützt Salafisten in
Deutschland“, titelte wenig später „Spiegel Online“: „Waffen-Deal:
Deutschland will Saudi-Arabien Kampfpanzer liefern“.

Die radikalislamistische Bewegung
der Salafisten, die laut Bundesinnenminister Friedrich „eine völlige
Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft anstreben“, hat in Deutschland
derzeit laut „FAS“ 2500 Anhänger, mit stark steigender Tendenz. Laut des von
der „FAS“ zitierten Verfassungsschutzberichts 2010 sind „fast ausnahmslos
alle Personen, die den Dschihad befürworten, durch den Salafismus geprägt“.
Ein Benno Köpfer, „Islamwissenschaftler beim baden-württembergischen
Verfassungsschutz“, stellt fest: „Die salafistische Bewegung in Deutschland
wäre ohne den saudischen Einfluß niemals so groß geworden, Saudi Arabien gibt
dafür sehr viel Geld aus“.

Der Scharia-Staat Saudi-Arabien, in
dem die Todesstrafe u.a. mittels Schwerthieb oder öffentlicher Steinigung
praktiziert wird, möchte nun bis zu 200 Leopard-Panzer von Deutschland kaufen,
der Bundessicherheitsrat (in dem u.a. Kanzlerin, Verteidigungs- und
Außenminister sitzen) hat den Export gebilligt. Der Leopard-Panzer ist
besonders geeignet, Demonstranten einzuschüchtern und Barrikaden aus dem Weg zu
räumen. Der „arabische Frühling“ in Bahrein war mit Hilfe saudischen Militärs
blutig niedergeschlagen worden... Doch wer, wie SPD-Nahles oder die „grüne
Gurke“ Roth, sich jetzt moralisch entrüstet, sollte besser schweigen – die
Bundesrepublik ist traditionell eines der Zulieferländer des „terroristischen
Gottesstaates“ (Hermann L. Gremliza) im Rüstungsbereich, auch die rotgrüne
Bundesregierung gestattete beispielsweise den Export von Schießanlagen, Maschinenpistolen,
Maschinenkanonen für Flugzeuge oder Ersatzteile für die Tornados, die man
Saudi-Arabien bereits zuvor geliefert hatte – und auch zu rot-grünen Zeiten lag
Saudi-Arabien bereits „mitten in einem Pulverfaß“, wie sich Frau Nahles heute
echauffiert.

Laut SIPRI, dem Stockholmer
Friedensforschungsinstitut, ist Deutschland in den Jahren von 1998 bis 2009
(zur Erinnerung: das war zum größeren Teil der Zeitraum, in dem die rot-grüne
Regierung neue „politische Grundsätze“ für den Waffenexport erlassen hatte, in
denen es heißt, daß die „Rüstungsexportpolitik restriktiv gestaltet“ werde...)
vom fünft- zum drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt aufgestiegen.

Und auch eine andere Zahl ist
aufschlußreich: Zwischen 2006 und 2010 war laut SIPRI – man höre und staune –
Griechenland mit einem Anteil von 15% der wichtigste Abnehmer deutscher
Rüstungsexporte (noch vor Südafrika, der Türkei und Südkorea). Vor zehn Jahren
hat Deutschland Griechenland z.B. dazu gebracht, für 4,9 Milliarden Euro 60
Eurofighter zu bestellen, und „noch vor einem Jahr hat Außenminister
Westerwelle in Athen auf der Abwicklung dieses Geschäfts bestanden“
(Gremliza) – eben: „Griechenland ersäuft in Schulden ja nicht wegen der
Faulheit seiner Bewohner und der Bequemlichkeit seiner Amtsträger, sondern weil
deutsche und französische Unternehmen, Banken und, in deren Auftrag, Politiker
sich mit von Anfang an faulen Krediten den dortigen Markt für deutsche Exporte
erobert haben“ (Gremliza im August-Heft von „konkret“).

Friedens- und Menschenrechts-, vor
allem aber Wirtschaftspolitik, die sie meinen. Die Rüstungslobby-Politik der
Bundeskanzlerin allerdings ist systemisch, hat Methode. Nur eine Woche darauf
reiste Frau Merkel nach Afrika, um u.a. in Angola deutsche Rüstungsgüter
anzupreisen, etwa Patrouillenboote: „Wir würden Ihnen auch gern helfen bei
Ihren Verteidigungsanstrengungen, zum Beispiel bei der Ertüchtigung der
Marine“, so Merkel laut „taz“ bei Ihrer Ansprache in Luanda, der Hauptstadt
des an Erdölvorkommen so reichen Staates, der über eine der stärksten Armeen
des Kontinents verfügt und z.B. im Kongo mehrfach militärisch eingegriffen hat.

Wer angesichts des Atomausstieges
schon gedacht hatte, die Bundeskanzlerin sei irgendwie doch ganz o.k., sieht
sich eines Schlechteren belehrt: So, wie die Kanzlerin noch letztes Jahr der
Atomlobby in den Hintern kroch und die Laufzeiten der bundesdeutschen
Atomkraftwerke auf deren Wunsch hin verlängerte, so ist Angola Merkel aktuell
gerne auch Handlangerin der deutschen Rüstungslobby, die weltweit allüberall
ihre Finger im Dreck stecken hat.

 * * *

Gut würde in den saudi-arabischen
Schariastaat, in dem Homosexualität strengstens verboten ist und sogar mit der
Todesstrafe geahndet werden kann, auch der Kölner Kardinal Meißner passen, der
gerade einen Religionslehrer gefeuert hat, weil der „im Gegensatz zur
Amtskirche offen schwul ist“ (wie Küppersbusch süffisant in der „taz“
geschrieben hat). In der Amtskirche ist halt nur gewöhnlicher Kindesmißbrauch
opportun. Kardinal Meißner jedenfalls findet, man solle sich weniger „um die
sogenannte Energiewende kümmern“, denn „die Abtreibung ist der Super-GAU“...

 * * *

Einen Tafelspitz zubereitet auf Otto
von Habsburg. Mit viel frisch geriebenem Meerrettich, damit man nicht mehr
wußte, wovon einem die Augen mehr tränten – von der österreichisch-kaiserlichen
Beerdigungszeremonie inklusive Stephansdom und Anklopfen an der Kapuzinergruft
– oder von der sechsstündigen Liveübertragung im
deutsch-österreichisch-schweizerischen Kultur(!)kanal 3sat – oder eben doch vom
Meerrettich...

 * * *

Wenn das bei Burda („Bunte“)
erscheinende Kundenmagazin der deutschen Telekom für jüngere Menschen namens
„Electronic Beats“, dessen Chefredakteur seit Neuestem der ehemalige
Chefredakteur von „Spex“ ist, im Impressum der aktuellen Ausgabe, unterhalb von
„...is printed on recycled paper“ und „Electronic Beats Magazine is a division
of the Telekom Electronic Beats Music Sponsoring Program“, „Freedom for Ai
Weiwei“, für den wegen Steuerhinterziehung angeklagten und von bundesdeutschen
und Schweizer Rechtspopulisten unterstützen chinesischen Künstler also,
fordert, dann spricht das Magazin letztlich irgendwo auch pro domo seines
Geldgebers Telekom, denn der ehemalige Aufsichtsratschef der Deutschen Telekom,
Klaus Zumwinkel, zu dessen Amtszeit der Konzern Dutzende Mitarbeiter,
Gewerkschafter und Betriebsräte bespitzeln ließ, wurde wegen
Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf
Bewährung verurteilt – ein Urteil, das die „Spiegel“-Gerichtsreporterin Gisela
Friedrichsen als „abgekartetes Spiel“ bezeichnete – vermögende Angeklagte
könnten sich „ein Urteil nach ihrem Gusto gestalten“.

In der gleichen Ausgabe der
„Electronic Beats“, wünscht sich Dieter Meier die Zusammenarbeit von Dalai
Lama, Jürgen Habermas und Noam Chomsky: „I hope they would venture beyond
conventional critiques of capitalism to help find solutions for a better use of
human intelligence“.

Wie schön, daß sich immer, aber auch
wirklich immer eins zum anderen fügt.

Und wer sich wundert, was ein
mehrseitiges Gespräch mit Ai Weiwei in der Telekom-Sponsoring-Zeitschrift für
„Electric Beats“ zu suchen hat, dem wird ein ganzseitiges Foto geliefert, das
Ai Weiwei mit einem Smartphone der kalifornischen Sekte zeigt – seinem AiPhone
gewissermaßen.

* * *

Ein anderer Fan des Dalai Lama ist
US-Präsident Obama. Er empfing Herrn Tendzin zu einem 45minütigem
Gedankenaustausch im eigentlich ausländischen Staatspräsidenten vorbehaltenen
Raum des Weißen Hauses.

Was aber trieb Herr Tendzin, der
sich auch Dalai Lama nennt, in Washington, wenn er nicht beim US-Präsidenten
Tee trank? Er führte im Verizon Center (immer diese Telefonfirmen!) den Vorsitz
über ein Mysterienspektakel namens „Kalachakra-Tantra“, das laut „Junge Welt“
versprach, die ganze Welt in einen „Hort des Mitgefühls und der Güte“ zu
verwandeln. Wer sich nicht so recht etwas unter dem Begriff Kalachakra-Tantra
vorstellen kann (sowas solls ja geben): die etwa 20.000 Teilnehmer führen
kollektiv und nach genauer Maßgabe rituelle Verbeugungen, Niederwerfungen und Opferungen
durch, begleitet von Mantrarezitationen: „Om vajra-raksha, ham, om
vajra-ushnisha hum“. An den Nachmittagen sind Vorträge von Herrn Tendzin zu
Themen wie Karma, Wiedergeburt, korrektem Sexualverhalten (dringlichst sei jede
Ejakulation zu vermeiden, so der Dalai Lama) oder Astrologie zu hören.

Wer das gesamte elftägige Ritual
durchlaufe, erwerbe die Berechtigung, als „Shambhala-Krieger“ wiedergeboren zu
werden, so der Dalai Lama, und nehme an einem für das Jahr 2424 prophezeiten
apokalyptischen Endkampf um die buddhokratische Weltherrschaft teil, in dem
alle Feinde vernichtend geschlagen werden; Feldherr dieses Endkampfes werde
kein anderer als der Dalai Lama sein.

Glauben Sie jetzt nicht? Ich
fürchte, ist aber wahr, jedenfalls wird all dies aus Washington D.C. so
berichtet. Tschah.

Was allerdings unklar bleibt, ist
zweierlei – plant Obama, 2424 am Endkampf des Dalai Lama teilzunehmen? Und:
warum regen sich die Chinesen so auf, daß der durchgeknallte Herr Tendzin
seinen Blödsinn 45 Minuten lang dem US-Präsidenten vortragen durfte?

Laßt ihn doch reden...

* * *

Amüsant, wie in der bürgerlichen
Presse der SPD-Politiker Steinbrück kontinuierlich als Kanzlerkandidat
herbeigeredet wird. Klar, die Deutschen lieben das „Schneidige“, unser
Guttenberg ist weg, unser Schmidt ist alt und bei der „Zeit“, also wird ein
neuer Tabubrecher, der das „klare Wort“ liebt, benötigt und flugs inszeniert –
und Steinbrück macht das Spiel geschmeichelt mit. Der SPD-Politiker wird uns
derzeit bevorzugt als Wirtschafts- und Finanzexperte ans Herz gelegt. Sie
wissen schon, Finanzexperten sind die, die keine Ahnung haben, deren Prognosen
seltener zutreffen als die eines Schimpansen, der mit Darts auf die Wand wirft,
die aber ihren Blödsinn jederzeit in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen
Fernsehens aufsagen dürfen, ohne daß irgendjemand sie jemals mit dem
konfrontieren würde, was sie vor paar Wochen, Monaten oder Jahren so von sich
gegeben haben.

Steinbrück, der Wirtschafts- und
Finanzexperte zum Beispiel, war der Finanzminister, der noch zehn Tage, bevor
deutsche Banken vor dem Aus standen, behauptet hatte, die Bankenkrise sei auf
die USA beschränkt und spiele für die deutsche Wirtschaft und für die deutsche
Haushaltspolitik keine Rolle. Ein echter Experte eben.

* * *

Ganz so wie die
„Terrorismus-Experten“ bzw. „Terror-Experten“ (so im ZDF) aller deutscher
Fernsehsender, ob öffentlich-rechtlich oder privat, die am Tag der norwegischen
Attentate das deutsche Fernsehpublikum stundenlang mit Mutmaßungen
unterhielten, es sei zwar „noch nichts klar“, die Attentate seien aber
eindeutig entweder von Al Qaida oder ganz allgemein von Islamisten verübt
worden. Oder sie seien ein Racheakt von Gaddafi.

Am Tag darauf durfte man die zum
Teil gleichen „Experten“ bestaunen, wie sie mit größter Selbstverständlichkeit
das Gedankengebäude des rechtsextremen norwegischen Attentäters erklärten. Was
für eine Welt.

* * *

Für einen Tiefpunkt des sogenannten
„Journalismus“ im deutschen Staatsfernsehen sorgte ausgerechnet das
Kulturmagazin „aspekte“, das den „Salon-Nazi“ (Küppersbusch) Sarrazin von einer
einigermaßen hilflosen türkischstämmigen Journalistin durch Neukölln und
Kreuzberg begleiten ließ, wo der Sozialdemokrat seinen rassistischen Dumpfkram
aufsagen durfte. Und so sorgte „aspekte“ dafür, daß das fast schon vergessene
deutsche Thema „Sarrazin“ wieder durchs mediale Dorf geprügelt und allüberall
aufgewärmt wurde.

Wenn das der Journalismus des ZDF
ist, dann wünscht man sich fast, der Sender möge lieber jede erdenkliche
Prinzenhochzeit und jedes Adeligen-Begräbnis zeigen, das sich weltweit anbietet
– da können sie wenigstens nichts kaputtmachen und den kritischen Journalismus
praktizieren, den sie meinen.

* * *

Joachim Lottmann war für den
„Rolling Stone“ zu Besuch im grünen Milieu. Er brachte es an den Tag: Boris
Palmer, seit 2007 Oberbürgermeister von Tübingen, „hört gerne Dire Straits,
Police, Sting, BAP, Foreigner, Shakira und Anastacia. Mit Betonung auf Dire
Straits. (...) Palmer schwärmt von der schönen Frontfrau von Juli, seiner
Lieblingsband. Gelesen hat er wenig, eigentlich nur Perry Rhodan – alle 875
Folgen – und später „Der Schwarm“ von Frank Schätzing.“

Lottmann zieht das Fazit: „Boris
Palmer ist der grüne Obama. In Zukunft vielleicht Kanzlerkandidat. Er mag die
Dire Straits. Und Perry Rhodan. Wollen wir so einen? Klar.“

Zugegeben, wir sind vom
Musikgeschmack unserer Kanzler Kummer gewohnt. Schröder liebt die Scorpions,
Merkel fühlt sich irgendwie zwischen Leslie Mandoki und Richard Wagner hin und
hergezogen. Aber wollen wir einen grünen Kanzler, der Dire Straits, Juli und
BAP liebt und nur Perry Rhodan und Frank Schätzing liest? Ich würde sagen: eher
nein. Vielen Dank auch.

* * *

Manche Leserin und mancher Leser
dieses Rundbriefs wird es vielleicht wissen: der Autor ist in den 70er Jahren
in Oberbayern aufgewachsen, nicht allzuweit entfernt von der Stadt, die das
sogenannte Oktoberfest, die „Wiesn“, beheimatet.

In der Jugend des Verfassers war es
so ziemlich das Unmöglichste, Uncoolste, Unopportunste und Doofste, was man tun
konnte, aufs Oktoberfest zu gehen. Die Millionen, die sich zu dumpfer Blasmusik
ihr Leben mittels etlicher Maß Bier schöntranken, waren schwer zu ertragen –
wer etwas auf sich hielt, wer versuchte, ein Mensch von Geist und Geschmack zu
sein, der machte einen großen Bogen um die „Wiesn“ und sah statt dessen
Achternbuschs entlarvenden Film „Bierkampf“.

Tempora mutantur. Heutzutage gehen
die jungen Leute aufs Oktoberfest, staffieren sich zu diesem Behufe mit einem
Leih-Dirndl oder einer Trachtenjacke aus, selbst Münchner Alternativbetriebe
feiern mit Belegschaft und Geschäftspartnern in den Bierzelten bei Blasmusik
und Bier... das „anything goes“ der Postpostmoderne hat längst auch hier Einzug
gehalten.

Daran mußte ich denken, als ich
dieser Tage beim Melt-Festival erwachsene junge Menschen betrachtete, die sich
als Hasen oder Bienen oder Bananen oder Elche verkleidet hatten. Ganz ehrlich:
ich halte das für eine bedenkliche Entwicklung. Sicher, ich will gerne zugeben,
daß es auf Festivals mitunter Musik zu hören gibt, die möglicherweise nur in
einem Ganzkörperhasenkostüm zu ertragen ist – aber was tut man, wenn diese
Musik vorbei ist, eine andere Band zu spielen beginnt, man aber immer noch in
seinem Hasen- oder Bananenkostüm rumläuft? Eben. Das ist nicht lustig.

(bei dieser Gelegenheit: auch nicht
lustig ist diese neue „Mode“, daß Leute mit Fahrradhelmen rumfahren, die den
Wehrmachtshelmen ähnlich sehen, mit denen ihre Väter und Großväter nach Polen
einmarschiert sind... die Wahl solch eines Fahrradhelms signalisiert höchstens:
in diesem Kopf ist wenig Schützenswertes...)

* * *

„Gefühlvoll klingt Händel zu Fotos
von Jim Rakete.“

Betreffzeile der „Merkmail“ des
Versandhändlers 2001

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Man kann diese verlegerische Großtat
nicht genug bejubeln: Im ohnedies sehr lobenswerten Verbrecher-Verlag werden
die gesamten Tagebücher von Erich Mühsam in 15 Bänden herausgegeben. Soeben ist
der erste Band (1910/11) erschienen. Doch nicht nur dies: parallel erscheinen
die gesamten Tagebücher auch kostenlos im Netz (hallo, Zeitungsverleger! habt
ihr gehört?!? KOSTENLOS!!!...). Volltext. Üppig erläutert mit Hinweisen zu
Personen und Begebenheiten durch Anklicken wie bei Wikipedia. Mit ausführlichem
Personenregister. Und man kann in die Handschrift sehen. Es ist ein kompletter
Genuß. Und wie der Verleger sagt: natürlich kaufen viele, die im Internet in
den Tagebüchern stöbern, auch die gedruckte Version, denn man will auch das
Buch in der Hand halten – und parallel in den Erläuterungen im Internet stöbern
oder die Textsuche nutzen. Die erste Auflage ist bereits ausverkauft, man muß
nachdrucken. Wunderbar! Und den herrlichen Texten sozusagen ebenbürtig. Allein,
wie Mühsam über den Anthroposophen Rudolf Steiner herzieht, muß man gelesen
haben...

Wie man überhaupt mal festhalten
muß, daß der gerne verwendete Begriff „Suhrkamp-Kultur“ etwas zunehmend
Gestriges hat (wobei ich, am Rande gesagt, schon immer die „März-Kultur“
vorgezogen habe...). Die meisten spannenden neuen Bücher in meiner Bibliothek
kommen längst von Verlagen wie dem Verbrecher Verlag, diaphanes oder Merve, um
nur mal drei zu nennen. Allein, was zum Beispiel diaphanes so in den letzten
zwei, drei Jahren gedruckt hat von Badiou, Derrida, Rancierre oder Vogl, dafür
geb ich gerne ein Jahrzehnt edition suhrkamp her... Lange lebe also die März-
oder die Verbrecher-Kultur! Mußte mal gesagt werden.

* * *

Die „Jüdische Allgemeine“ berichtet
von einem besonderen Seitenaspekt der Globalisierung: „Tausende
palästinensischer Frauen verdienen ihren Lebensunterhalt mit dem Häkeln von Kippot,
wie sie nationalreligiöse Siedler bevorzugt tragen (...) Früher haben die
Textilarbeiterinnen Keffijas hergestellt. Die symbolträchtigen
Palästinensertücher werden inzwischen jedoch aus China zu Dumpingpreisen
importiert.“ Die Palästinensertücher kommen neuerdings aus China, dafür
kommen die Kippot der nationalreligiösen jüdischen Siedler nun aus
Palästinenserhand. Das Leben hat manchmal wirklich gute Geschichten zu
bieten...

* * *

Gunter Gabriel hat noch Pläne. Etwa
diesen: „Man könnte Lieder von Franz Schubert aufnehmen, mit einem Johnny
Cash-typischen Boom-Chicka-Boom (...) Boom-Chicka-Boom, die launische Forelle,
vorüber wie ein Pfeil, Chicka-Boom, verstehst du?“ Wir verstehen. Auf die
Erklärung, daß der Liedtext des revolutionären Dichters Christian Friedrich
Daniel Schubart, der auf der Festung Hohenasperg eingesperrt worden war, seine
eigene Täuschung und Gefangennahme beschreibt, stellt Gunter Gabriel im
Gespräch mit Springers „Welt“ fest: „Das paßt ja. Ich bin auch ein
rebellischer Mensch. Und dazu dann ein paar Lieder aus der Winterreise.“

Im Moment ist Gunter Gabriel
allerdings fern davon, so rebellisch zu sein, daß ihn dieser Staat einsperren
müßte, ganz im Gegenteil: im Staatsfernsehen NDR, das sich mit Gunter Gabriel
die „Haltung“ teilt, sich für keine Peinlichkeit zu schade zu sein, läuft diese
Woche die Doku-Soap „Der Hafencowboy“ mit Gunter Gabriel an...

* * *

„Genau dann, wenn alle Menschen
damit beschäftigt sind, an sich und aneinander herumzuschnüffeln, werden sie
für die Vorgänge insgesamt anästhesiert.“

Marshall McLuhan

* * *

Aus unserer kleinen Reihe „unverlangte Künstlerangebote“ diesmal ein Name, den
ich noch nie gehört hatte: Unter dem Betreff „Gina-Lisa Lohfink: Neu-Single,
Topmodel & It-Girl“ wird eine junge Dame wie folgt angeboten: „Wie
viele von Ihnen sicherlich mitbekommen haben, gab es in den letzten Wochen kaum
einen Tag, an dem Neu-Single Gina-Lisa nicht in irgendeinem großen Medium in
Deutschland präsent war. U.a. heiße Küsse mit Popstar und Bußenfreundin (die
originelle Rechtschreibung so im Original, BS) Loona oder ihre Trennung von
Fußballstar Arthur Boka sorgten für wahnsinniges Interesse. (...) Wir freuen
uns auf Ihre Event-Vorschläge!“

Zugegeben, ich kenne weder den Popbußenstar Loona noch den Fußballstar Arthur
Boka, geschweige denn It-Girl Gina-Lisa Lohfink, deren „authentische,
natürliche Art“ sie ganz sicher schnell „zum Liebling der Zuschauer“ gemacht
hat. Insofern will mir ein „Event-Vorschlag“ mit Gina-Lisa Lohfink leider nicht
so recht einfallen. Und die Vorgruppen-Slots für Iron & Wine oder Depedro
scheinen mir leider auch etwas zu anspruchsvoll zu sein. Tut mir
leid. Medium hin, Medien her.

* * *

Ansonsten: „Ars longa, spectatores figaces.“ („Art is forever. An
audience comes and goes.“)
(Pere Ubu)
Wobei uns lieber ist, Sie kommen... und zwar bevorzugt zu unseren Konzerten.
Genießen Sie den Sommer! Auch der kommt und geht... Tun Sie Buße. Aber nicht zu
viel.
Om vajra-ushnisha hum, boom-chicka-boom, om vajra-ushnisha hum!