22.06.2012

Und Ansonsten 2012 06 1/2

Drolliges
Bäumchen-wechsel-dich-Spiel im deutschen Musikjournalismus. Und irgendwie hängt
allüberall irgendwie „SS“ drin, „Spex“ und „Springer“. Der ehemalige
Chefredakteur der Spex  leitet seit
geraumer Zeit das Kundenmagazin der Deutschen Telekom, das sich verschämt
„Electronic Beats“ nennt. Der ehemalige Redakteur des „Rolling Stone“
(„...erscheint monatlich in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH...“) wird
Chefredakteur von „Spex“, der ehemalige „Spex“-Redakteur wird Chefredakteur des
„Rolling Stone“. Der ehemalige Chefredakteur der „Spex“ schreibt jetzt für die
„Süddeutsche Zeitung“ (und zeigt dort anhand des aktuellen Patti Smith-Albums,
was er nicht kann, nämlich: über Musik schreiben...). Der Pop-Chef der
„Berliner Zeitung“ wechselt mit einer Kolumne von „Spex“ zu „Rolling Stone“
ebenso wie ein weiterer geschätzter Autor des Feuilletons der „Berliner
Zeitung“ (wobei ich mich immer frage, worin der Charme für eine kompetente
Musikzeitschrift besteht, Kolumnen bei Redakteuren des Feuilletons zu bestellen,
außer: daß die vielleicht besser schreiben können? aber wäre es in Zeiten
drastisch sinkender Auflagen der Musikzeitschriften und eines damit
einhergehenden Bedeutungsverlustes der Musikkritik nicht sinnvoller, eigenes Profil zu gewinnen, als es sich
beim bürgerlichen Feuilleton zu leihen?). Der ehemalige Spex-Redakteur  wurde im Sommer 2011 beim „Musikexpress“
(„...erscheint monatlich in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH...“) als
„unser neuer Mann an Bord“ und Redaktionsleiter vorgestellt und ist im Frühjahr
2012 plötzlich Redakteur des „Rolling Stone“.

Man kommt
förmlich nicht mehr hinterher. Und was hat das alles zu bedeuten? Es ist wie
bei der Tonträgerindustrie, als derartige Bäumchenwechseldichspiele in der
zweiten Hälfte der 90er Jahre und im frühen 21. Jahrhundert zur Regel wurden
und viele Angestellte im Zwei-Jahres-Rhythmus zwischen den großen Playern der
Plattenfirmen hin und her wechselten – es hat, neben vielen anderen Gründen,
auch mit Krise zu tun, in der die
Akteure zu Verzweiflungstaten greifen. Die Auflagen der großen
Musikzeitschriften haben sich in den letzten paar Jahren halbiert.

* * *

Maria Furtwängler
ist Leni Riefenstahl. Die Frau des
Verlegers Hubert Burda soll in einer ZDF-Produktion mit dem Regisseur Niki
Stein („Rommel“) Hitlers Lieblings-Regisseurin („Triumph des Willens“) spielen.
Die Idee zu dem Fernsehfilm stammt laut „Bild am Sonntag“ von Maria Furtwängler
selbst, die sich seit vier Jahren intensiv mit Riefenstahls Biographie beschäftige.

* * *

Und „die
Wanderhure“ ist Stephanie zu Guttenberg. In einem
geplanten Fernsehfilm über Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg
soll Alexandra Neldel dessen Ehefrau Stephanie spielen, erfahren wir in einer
Meldung der „Berliner Zeitung“. Alexandra Neldel, die mit der Serie „Verliebt
in Berlin“ bekannt wurde und zuletzt mit „Die Wanderhure“ und „Die Rache der
Wanderhure“ erfolgreich war, hat laut Fernsehproduzent Nico Hofmann für
Stephanie zu Guttenberg „genau die
richtige Figurentiefe“.

* * *

Die Einführung
des sogenannten Betreuungsgeldes ist so ziemlich der ärgerlichste Beitrag der
an Ärgerlichkeiten nicht eben armen Politik der Bundesregierung. Mit welchen
undemokratischen Mitteln eine Politik, die von der OECD in einer Studie als
nachteilig für berufstätige Frauen und für die Integration von Zuwanderern
analysiert wurde, hierzulande durchgesetzt wird, erzählt ein Beitrag der
„Berliner Zeitung“.

Demzufolge ist
geplant, das Betreuungsgeld trotz immer neuer Hinweise auf seine Nachteile „offenbar ohne längere parlamentarische
Beratungen durch den Bundestag zu drücken“. Die 20
CDU-Bundestagsabgeordneten, die in einem Protestbrief im April angekündigt
hatten, aus guten Gründen gegen das Betreuungsgeld stimmen zu wollen, wurden
jetzt von Angela Merkel besucht (oder doch eher heimgesucht?). Zweck des
Treffens: „Den Abgeordneten die
strategische Bedeutung der Abstimmung über das Betreuungsgeld deutlich zu
machen. Die CSU hat dieses Projekt zu einem Prüfstein für die Koalition erklärt
– eine Kränkung der bayerischen Partei will Merkel ein Jahr vor der schwierigen
Landtagswahl wohl nicht riskieren“. Politik also nicht aus inhaltlichen,
sondern aus „strategischen“ Gründen. Bundestagsabgeordnete, die nicht, wie es
das Grundgesetz vorsieht, ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich sind,
sondern Abgeordnete, die von der Regierungschefin auf Kurs gebracht werden – „das Bemühen, die Kanzlerin nicht zu
beschädigen, spielt dabei offenbar unabhängig von den Inhalten eine große
Rolle“.

Realpolitik in
der Post-Demokratie. Würde so etwas in Moskau oder Beijing passieren –
Machtpolitik am Parlament vorbei, Abgeordnete vom Machthaber auf Kurs gebracht
–, die  Parteien und Medien würden Amok
laufen...

* * *

Im Münchner
Literaturhaus eine Ausstellung über Gerhard Polt (dem an dieser Stelle
herzlichst zum 70.Geburtstag gratuliert sein soll! der erste Künstler, den die
Konzertagentur Berthold Seliger jemals veranstaltet hat, zwei ausverkaufte
Konzerte von Gerhard Polt und den Biermösl Blosn in Fulda im September
1988...), und darin neben den vielen wirklich komischen und gleichzeitig sehr
abgründigen Szenen („Habemus Papam!“, wie Polt als Papst Bene mit einem Kärcher
das Laub vor sich hintreibt und dabei in päpstlicher Fistelstimme vor sich
hinplappert, bis die Biermösl-Blosn auf die Bühne kommen und mit Alphörnern
ausgerechnet und exakt Orffs Carmina Burana intonieren – wie sich also wirklich
ALLES auf wunderbarste Weise zu ALLEM fügt, darüber kann man förmlich nicht
aufhören zu lachen! gibts auch auf DVD übrigens) – o.k., ich bitte neu ansetzen
zu dürfen: besonders auffällig ist aber die Kabarett-Sendung über den
Rhein-Main-Donau-Kanal, dieser legendäre Höhepunkt der Fernsehgeschichte – was
Fernsehen damals durfte! Unglaublich. Wie in bester aufklärerischer Manier
klargemacht wird, wie die Industrie die bayerischen CSU-Bonzen schmiert, um die
entsprechenden Baugenehmigungen zu erhalten, wie da alle Namen genannt werden
bis hinauf zum Ministerpräsidenten – so etwas war einmal möglich bei der ARD!
Und so etwas würde heute nicht mehr möglich sein. So etwas würde keine
Redaktion in Auftrag geben, es würde nicht gesendet werden, vor allem aber
auch: so etwas würde sich kein TV-Autor und -Darsteller heutzutage mehr trauen!
Und das ist eben auch die Wahrheit.

Ad multos annos,
G.P.!

* * *

Im „Handelsblatt“
schreibt Gabor Steingart:

„Sie wundern sich zuweilen über die steigenden Energiepreise? Der ehemalige russische Diplomat und heutige
Lobbyist Andrey Bykov erklärte unserem Reporter Jan Keuchel, wie der Stromkonzern EnBW die Gelder der
Kundschaft ausgibt. Rund 200 Millionen
Euro erhielt Bykov aus den Kassen der EnBW. Die eine Hälfte davon war
für den Lobbyisten, die andere Hälfte für Kirchen, Denkmäler und Wallfahrten in
Russland bestimmt. "Damit wurden 84 Kirchen, 30 Denkmäler, 60
Schachschulen, eine Oper und drei Orchester finanziert, dazu Dutzende von
Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern", sagt Bykov.

Diese Ausgaben dienten "der politischen
Klimapflege", um an die Gasvorräte
der Russen zu kommen. Das Geld sei über Scheinverträge geflossen. Schwere Vorwürfe, die sich auf die
Zeitdauer von immerhin drei Vorstandsvorsitzenden der EnBW erstrecken.“ 

* * *

Klaus Walter hat
darauf hingewiesen:

„Die Firma EMI schmückt ihre Erfolgsreihe
”Ballermannhits” mit einem Ötzi-esken Stimmungshit von Klana Indiana: "Wer jetzt net hupft, is schwul!"

Das also ist
der Stand der Querness in diesem unseren Land, in dieser unserer
Musikindustrie.

* * *

Die „Musikwoche“, das Fachblatt für den Copyright-Cop, jubiliert: „524 Millionen Schaden“ soll und will
der deutschen Musikindustrie im Jahr 2010 durch „digitale Piraterie“ entstanden sein; „allein 256 Millionen Euro davon entfielen hochgerechnet nach
Marktanteilen auf Musik aus deutscher Produktion. Zu diesem Ergebnis kommt eine
vom Medienboard Berlin-Brandenburg und dem Bundesverband der
Computerspielindustrie (G.A.M.E.) in Auftrag gegebene Studie“.

Hört sich alles topseriös an. Und so stößt der Chef der Universal, Frank
Briegmann, ins Nebelhorn: „Wir erleben
Umsatzverluste, die mehr als existenzgefährdend sind – für Künstler,
Arbeitsplätze und Unternehmen“.

Doch wo sich der klar und logisch denkende Mensch schon immer gefragt
hat, wie denn die Musikindustrie ihre genauen Verluste durch sogenannte
illegale Downloads berechnet, da hat sich der Wiener
Wirtschaftswissenschaftler, Professor für Kulturbetriebslehre und Betreiber des
angesehenen „Blog Musikwirtschaftsforschung“, Peter Tschmuck, die Arbeit
gemacht, die angebliche „Studie“ des Medienboards BeBra auf Herz und Nieren zu
durchleuchten. Fazit: da bleibt nicht viel übrig.

Im Einzelnen die wichtigsten Kritikpunkte, die Tschmuck in einem
ausführlichen Text belegt:- Die Untersuchung des Medienboards basiert in erster
Linie nur auf einer Sekundäranalyse der vorhandenen Literatur, ergänzt durch
einige ExpertInnenintervciews. „Eine
methodische Auswertung der Interviews im Rahmen einer qualitativen
Inhaltsanalyse ist nicht erkennbar.“- Ähnlich mangelhaft ist laut Tschmuck die
Vorgehensweise bei der Schadenserrechnung für die Musikindustrie: die
„Pirateriemenge“ wird einfach mit einer aus der Literatur abgeleiteten
Substitutionsrate multipliziert.- In der gesamten „Studie“ werden die Begriffe
„Musikwirtschaft“ und „Musikindustrie“ nicht definiert und voneinander
abgegrenzt.- Besonderes Bubenstück der „Studie“: die vom
Bundesverband der Musikindustrie (BMI) zur Verfügung gestellten (und per se
zweifelhaften) Zahlen werden „dem
theoretischen Umsatzwachstum nach der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) auf Basis des Jahres 1999 gegenüber gestellt“ – diese Darstellung „muß allerdings als suggestiv bezeichnet
werden, weil es keinen empirisch-kausalen Zusammenhang zwischen der Entwicklung
des BIPs und der Umsatzentwicklung in der phongraphischen Industrie gibt“,
stellt Tschmuck lapidar fest.- Und so geht es weiter – in der „Studie“ werden
Feststellungen willkürlich getroffen, die an keiner Stelle belegt werden, die
Zahlen, die die „Studie“ etwa bei den Beschäftigten nennt, stehen „in keiner nachvollziehbaren kausalen
Beziehung“. Bei der Addition der Gesamtsumme der „illegalen“ Tracks stellt
Tschmuck fest, daß „eine simple Addition
der Werte durch nichts gerechtfertigt ist“, und „die Zahlen für den Festplattentausch“ sind  „so gut
wie gar nicht empirisch gesichert“, die Kapitelüberschriften seien „suggestiv“, es werden nicht alle
verfügbaren Studien berücksichtigt, sondern nur ausgewählte (man kann sich
leicht vorstellen, welche Studien
ausgewählt wurden – die, die den Autoren in den Kram paßten natürlich), und
Tschmuck faßt schließlich zusammen:- Die Studie „liefert
keine empirisch gesicherten und somit brauchbaren Ergebnisse, die den
Zusammenhang von Musik-Filesharing und physischen sowie digitalen
Musikverkäufen erklären könnten. (...) Zum Teil fällt die Darstellung suggestiv
aus und es werden vorliegende Statistiken und Studien verkürzt und
oberflächlich interpretiert. (...) Insgesamt muß konstatiert werden, daß die
Berechnung des wirtschaftlichen Schadens der phonografischen Industrie in
Deutschland und in der Region Berlin-Brandenburg jeglicher Grundlage entbehrt
und alles andere als eine verläßliche Zahlenbasis bietet. Darüber hinaus wird
die Studie ihrem Titel (...) in keinster Weise gerecht (...) In diesem Sinn
leistet die vorliegende Studie keinen brauchbaren Erklärungsbeitrag, welche
wirtschaftlichen Auswirkungen Musik-Filesharing auf die phonografische
Industrie im Speziellen und die Musikindustrie in Deutschland im Allgemeinen
hat.“

So etwas nennt man wohl eine gewaltige Ohrfeige. Setzen, sechs!

Doch eine „Studie“ kann noch so absurd und inkompetent und lügnerisch
daherkommen – Hauptsache, es kommt das raus, was rauskommen soll, und schon
wird sie vom „President Universal Music GSA“ und vom Bayernkurier der
Verwertungsindustrie Hand in Hand (die eine wäscht bekanntlich die andere) im
großen Stil der Öffentlichkeit präsentiert. Hatten wir schon: die Lage der
Verwertungsindustrie muß verzweifelt sein, wenn sie ihr Anliegen derart
vorantreiben muß...

(Tschmucks Stellungnahme im Netz: http://musikwirtschaftsforschung.wordpress.com/2012/06/15/die-auswirkung... )

* * *

Doch auch die Abmahnindustrie bleibt nicht untätig. Jüngstes Opfer, wie
wir auf „Perlentaucher“ erfahren: der Filmemacher Rudolf Thome („Rote Sonne“),
der auf seiner Website zwei Kritiken aus dem „Tagesspiegel“ zu seinen Filmen
dokumentiert hatte und deshalb von einer Hamburger Rechtsanwaltskanzlei
aufgefordert wurde, knapp 950 Euro zu bezahlen. Thome war selbst 15 Jahre lang
Autor von Filmkritiken für das Blatt, das der Berliner gerne „Tagesspitzel“
nennt. „Wie kann dem Tagesspiegel ein
Schaden durch die Wiedergabe zweier uralter Kritiken entstanden sein“,
fragt sich Thome.

Besonders skurril: Im „Tagesspiegel“ fand man im März 2012 noch recht
deutliche Worte gegen die Abmahnindustrie: „Wenn
das aktuelle Abmahnwesen in Deutschland eine Farbe hätte, wäre es
schmutzig-grau. Mit allerlei Tricks versuchen Geschäftemacher, über Abmahnungen
Geld zu verdienen.“

Bekanntlich sind die größten Kritiker der Elche selber welche...

* * *

Ebenfalls aktiv ist der Computerhersteller Apple, der laut einem Bericht
der „Zeit“ bei Musikstücken anstößige Texte zensiert und sie durch „gesäuberte“
Versionen ersetzt, ohne daß die Nutzer darauf aufmerksam gemacht würden. Aus dem „We gonna party for the motherfucking right to
fight“ der Beastie Boys wird in der gated community von Apples iTunes einfach
„We gonna party for the KRATZGERÄUSCH right to fight.“

Es gibt eine längere Zensurliste bei Apple: keine Nackten im
James-Joyce-Comic „Ulysses Seen“ von Rob Berry im Juni 2010; im Mai „fiel die App zur Münchener
Pinakothek-Ausstellung Frauen – Picasso, Beckmann, de Kooning dem Brustverbot
aus Kalifornien zum Opfer. Der Kunst-App-Hersteller sollte Beckmanns nackte
Schlafende aus den Bildern entfernen, die das Produkt bei iTunes bewerben. Erst
danach stellte Apple die App wieder online.“ Brave new world.