15.09.2013

Zur Bundestagswahl 2013

Man hat das Gefühl... oh, das ist unpräzise formuliert, es muß richtig
heißen: Die Politik, vor allem aber die Medien geben einem das Gefühl, als ob es im Wahlkampf nur um eine
Quanten-kleine Bandbreite von Themen gehe, irgendwo zwischen Seehofers Maut und
Steinbrücks Mittelfinger. Klar ist: Muttis (also Merkels) Wahlkampf und das,
was die Medien als bereitwillige Liebesdiener daraus machen, ist eine
biedermeierliche Paraphrase angeblich demokratischer Auseinandersetzung, mit
der uns vorgespielt wird, es gehe um nichts, wir seien alle glücklich. Dabei
geht es natürlich um sehr viel: Die Geheimdienste der USA, Großbritanniens und
Deutschlands konstruieren mit Hilfe der Big Data-Konzerne weltweite Überwachung
– und das ist ja immer auch die andere Seite des Biedermeiers, das wissen wir
seit Metternichs Spitzelstaat: flächendeckende Überwachung ist die andere Seite
der klingenden Münze, die da gnadenlose Unterhaltung heißt. Die Untertanen
sollen sich „nicht versammeln, sondern zerstreuen“ (Metternich).

Oder: die
Bankenkrise, die die Steuerzahler bisher etwa 70 Milliarden Euro gekostet hat. Hat
sich an der Bankenpolitik der Bundesregierung irgendetwas geändert? Nicht die
Spur. „Die Deutsche Bank hat momentan
eigenes Kapital von etwa 3 Prozent – die restlichen 97 Prozent der Bilanzsumme
werden durch Schulden finanziert, wie bei Lehman Brothers. Erst bei einem
Eigenkapital von 20 bis 30 Prozent wären die Banken und das Finanzsystem einigermaßen
sicher“ (Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung
von Gemeinschaftsgütern), in der Realität aber zocken die Großbanken mit 90
Prozent oder mehr an geliehenem Geld, während wir weiter das Risiko tragen.

Oder: halb Europa leidet unter der Knute deutscher Austeritätspolitik. Doch
darüber wird in diesem Wahlkrampf nicht gesprochen. Ebenso wenig wie darüber,
daß immer mehr Kinder und Jugendliche von Bildung ausgeschlossen werden,
während die Wohlhabenden ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Es
interessiert niemanden.

Interessiert es wirklich niemanden? Doch, es interessiert viele
Menschen: all die Menschen nämlich, die nicht mehr wählen gehen – also die mit
Abstand stärkste Partei. Etwa 30 Prozent der Wahlberechtigten werden nicht zur
Wahl gehen. Es sind Frustrierte aus den unteren Schichten, die wissen, daß ihre
Interessen von keiner Partei vertreten werden, ebenso wie einige
Mode-Intellektuelle, denn Nicht-Wählen ist en
vogue. Was bei diesen Propagandisten des Nicht-Wählens jedoch fehlt,
scheint mir ein wesentlicher Gedanke: Es reicht nämlich nicht aus, nicht wählen
zu gehen, man sollte gleichzeitig fordern, daß das Wahlsystem endlich die
Stimmen Aller zählt, also auch
derer, die nicht wählen gehen. Dann nämlich würde die herrschende
Postdemokratie unter Druck geraten, massive Probleme bekommen. Etwa ein Drittel
aller Sitze blieben leer. Merkels CDU hätte weniger als 30, die SPD weniger als
20, die Grünen wenig mehr als 5 Prozent, und Splitterparteien wie die FDP wären
gar nicht mehr im Bundestag sitzen. Man kann natürlich sagen: nun gut, dann
wäre die einzig mögliche Regierung die Große Koalition, und das ist das, was am
22.9. sowieso herauskommen wird, so what?

Gemach – ich stelle mir nämlich weitere Wahlrechtsänderungen vor. Ich
verlange, daß auch die etwa 7,5 Millionen Menschen, die in unserem Land leben
und nicht wählen dürfen, künftig mitgezählt werden. Ich spreche von all den
Bürgerinnen und Bürgern, die hier leben, die ihren Lebensmittelpunkt hier
haben, die Steuern zahlen, die ihre Beiträge zur Sozialversicherung abführen,
sich am Bruttosozialprodukt beteiligen und und und. Die aber systematisch
entrechtet sind, die nur Pflichten, aber keine Rechte haben, nicht einmal das
einfachste Partizipationsrecht an der Gesellschaft, nämlich an den Wahlen
teilnehmen zu dürfen. Ich spreche von den über 7,5 Millionen Migranten,
Volljährige ohne Wahlrecht, die Hälfte davon lebt länger als 15 Jahre in diesem
Land. Es ist ein Skandal, daß diese Menschen, aber auch die Flüchtlinge von
allen Entscheidungen ausgeschlossen werden. Und solange das Wahlrecht nicht
endlich geändert wird und sicherstellt, daß alle Menschen, die hier leben, auch
mitbestimmen, also zum Beispiel wählen gehen dürfen, solange sollte eine
anteilige Anzahl der Sitze auch der Migranten im Bundestag leer bleiben. Sollen
die Herrschenden doch ihre Mehrheiten herholen, wo sie wollen. Über dem
Reichstag steht nach wie vor „Dem deutschen Volk“. Und das ist wörtlich
gemeint. Und das ist ein Skandal.

„Wie würden die
Wahlen ausgehen, wenn 7,5 Millionen Menschen auf einen Schlag Wahlrecht hätten?
Was würde auf den Plakaten stehen? Wie würde Wahlwerbung aussehen? Und wie
würden die Parteien auf den NSU-Skandal, auf Rassismus, auf fehlende
Gleichberechtigung für Migranten in Schule, Ausbildung und Beruf reagieren? Wie
sähe Bildungs- Wohnungsbau-, Flüchtlings-, Arbeitsmarkt- und Sicherheitspolitik
in diesem Land aus, wenn wir 7,5 Millionen Menschen, deren Eltern aus einem
anderen Land kamen, mit wählen dürften?“ (Mely Kiyak in „Berliner Zeitung“)