Hungerlöhne in Europa
"Hungerlöhne in Europa.
Auch in Bulgarien und Rumänien sind die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie katastrophal.
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Einer Untersuchung der Kampagne Saubere Kleidung zufolge schuften in ost- und südosteuropäischen sowie in ostanatolischen Textilbetrieben rund drei Millionen überwiegend weibliche Beschäftigte unter Bedingungen, die kaum besser sind als jene in Bangladesch. Vielerorts liegt die Bezahlung um 80 Prozent unterhalb des existenzsichernden Lohnniveaus. Lohndiebstahl und sexuelle Übergriffe sind keine Seltenheit. (...)
In den EU-Staaten Bulgarien, Kroatien, Rumänien und Slowakei sowie in Bosnien-Herzegowina, Georgien, Mazedonien, Moldawien, der Ukraine und der Türkei klafft eine gewaltige Lücke zwischen den gesetzlichen Mindestlöhnen auf der einen und der Höhe tatsächlich existenzsichernder Entgelte auf der anderen Seite. Soll heißen: Selbst wo ein Mindestlohn gezahlt wird, reicht er zum Leben bei weitem nicht aus. 'Diese Lücke scheint in Europas Niedriglohnländern eher größer zu sein als in Asien', schreiben die Studienautoren. Der gesetzliche Mindestlohn in Bulgarien, Mazedonien und Rumänien habe 2013 noch unter dem Niveau des chinesischen gelegen. In Bulgarien betrug der gesetzliche Netto-Mindestlohn am 1.Mai 2013 umgerechnet 139 Euro im Monat. Die Armutsgrenze (...) lag bei 245 Euro. (...)
Neben den georgischen tragen die Textilbeschäftigten in Bulgarien und Ostanatolien das höchste Armutsrisiko der untersuchten Länder. Auch dort erhalten die Näherinnen nicht einmal ein Fünftel des existenzsichernden Lohns. Dieser Befund ist umso bedrückender, als etwa die Hälfte der in der EU grenzüberschreitend gehandelten Textilien aus den genannten Regionen stammt. Hauptabnehmerländer sind Deutschland und Italien. Die Türkei liefert ein Fünftel ihrer Bekleidungsexporte nach Deutschland. (...)
Der überaus kostengünstigen Arbeitskräfte bedienen sich fast alle Unternehmen, die in der Branche Rang und Namen haben. In Europas Hinterhof läßt die Crème de la crème der Modeindustrie ebenso produzieren wie führende Sportartikelhersteller, Versandhäuser und Textilketten, darunter Versace, Hugo Boss, Dolce & Gabbana, Gerry Weber und Prada, Puma, Nike und Adidas, C & A, Esprit, Benetton, Tom Tailor, Levi's, H & M, Zara/Inditex, Mango, Arcadia und Otto."
(aus: "Berliner Zeitung" vom 17.6.2014)