In Europa gibt es einen stillen Putsch, einen kalten Staatsstreich. Er erfolgt aus dem Innern diskreter wirtschaftspolitischer Machtnetzwerke und er ist gegen die Bevölkerung Europas gerichtet. So lautet die Kernthese des neuen Buchs von Jürgen Roth mit dem Totel "Der stille Putsch".
Aus einem aktuellen Interview von Reinhard Jellen mit Jürgen Roth in „Telepolis“:
Sie sprechen in Ihrem neuen Buch von einem "stillen Putsch" und einer Art "kalten Staatsstreich", der in Europa stattgefunden hat. Was meinen Sie damit?
Jürgen Roth: Der in Europa regierenden neoliberalen Elite in Politik und Wirtschaft ist es in den letzten vier Jahren unter dem Vorwand notwendiger Reformen (Schuldenbremse etc.) gelungen, ein wirtschaftliches und soziales Ordnungssystem durchzusetzen, bei dem es ausschließlich um die Machterhaltung, Besitzstandwahrung und Vermögensvermehrung einer globalen Elite geht und zwar durch die gezielte Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme in Europa. Es ist ein klarer Systemwechsel durch einen Putsch, bei dem die Menschenrechte in Spanien, Portugal oder Griechenland, laut des Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Nils Muiznicks, mit Füßen getreten werden, die Europäische Sozialcharta ausgehebelt wurde. Es ist ein Putsch, der seit 2009 mehreren tausend Menschen das Leben gekostet hat, durch fehlende Krankenversorgung, Hunger oder Selbstmorde aus Verzweiflung. Wir hier in Deutschland wollen das anscheinend nicht wahrnehmen, weil wir kein Blut oder kein Militär sehen wie bei einem klassischen Putsch.
Sie sehen also in der gegenwärtigen "Europa-Krise" nicht einfach nur das Produkt einer Zusammenreihung von, sagen wir: "unglücklichen Entscheidungen" der politischen Elite und schwer zu kontrollierenden äußeren Faktoren, sondern Sie gehen davon aus, dass skrupellose Machteliten planvoll vorgehen. Wie untermauern Sie diese These?
Jürgen Roth: Nein, das waren keine "unglücklichen Entscheidungen", sondern der Putsch wurde von der Machtelite geplant und durchgeführt. Wobei die Troika dabei eine führende Rolle spielte. Das ist keine These, sondern die Realität.
Wir brauchen uns nur Griechenland und Portugal anzusehen, was ich ja näher untersucht habe. Wolfgang Hetzer, ehemaliger Berater des verstorbenen Generaldirektors von OLAF in Brüssel, fragt, ob sich im Bereich der modernden Finanzgesetzgebung eine arbeitsteilige Kultur des kalten Staatsstreichs etabliert hat. Und Ulisses Garrido, der Direktor der Abteilung für Bildung des Europäischen Gewerkschaftsbundes, diktierte mir ins Mikrophon: "Das ist keine Verschwörungstheorie. Für mich ist es ein Putsch, weil es die Synthese dessen ist, was wir hier in Europa erleben, eine Attacke auf den Sozialstaat. Was erreicht werden soll, ist eine komplette Veränderung der Gesellschaft, ohne dass die Bevölkerung darüber mitentscheiden kann. Es ist eine ideologische Revolution, ein stiller Putsch - zweifellos."
Und ich könnte noch mehr Beispiele anbringen, zum Beispiel Portugal. Dort hat die Troika genau das an sozialem und gesellschaftlichem Kahlschlag durchgesetzt, was die konservative Regierung auf demokratischem Weg nicht erreichen konnte. Ich weise nach, dass die Regierung in Lissabon der Troika sogar diktiert hatte, was alles an sozialen Errungenschaften zerschlagen werden muss. Und genau das wurde dann von der Troika umgesetzt."
(zitiert nach „Telepolis“ vom 10.4.2014 – Interview: Marcus Klöckner)